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FSRK

Materialkatalog zur Schulden- und Vermögensuhr vor der Universität Hamburg

„Wenn ich den Armen Essen gebe,
nennen sie mich einen Heiligen.
Wenn ich frage, warum sie arm sind,
nennen sie mich einen Kommunisten.“

Hélder Câmara, Befreiungstheologe und ehemaliger Erzbischof von Olinda e Recife, Brasilien, 1985.

Editorial

Angesichts des in der Vermögens- und Schuldenuhr vor der Universität Hamburg dargestellten krassen Gegensatzes der privaten Vermögen einiger Weniger einerseits zu der öffentlichen Armut andererseits tauchen in den hier für die Öffentlichkeit ausgelegten Kommentarbüchern und in Gesprächen häufig Fragen dazu auf,

  • welche Motivation dieser Installation zu Grunde liegt,
  • was genau die summierten Vermögen umfasst,
  • ob die Gesellschaft zusammenbricht, wenn die Reichsten nicht mehr hofiert werden oder ob es sich gerade anders herum verhält,
  • wie das dargestellte Verhältnis entstanden und verantwortet ist, und
  • ob der gesellschaftlich erarbeitete Reichtum für eine solidarische Entwicklung der Welt denn ausreicht?

In diesem Materialkatalog sind öffentlich zugängliche Informationen zu diesen Fragen zusammengestellt.

Inhaltsverzeichnis

Dokumentiert
I. Rede der FSRK zur Eröffnung der Schulden- und Vermögensuhr

Reichtum
II. Erläuterung zu den in der Schulden- und Vermögensuhr gezählten Vermögen
III. Private Vermögen
IV. Private Armut

Neoliberale Steuerpolitik
V. Öffentliche Armut
VI. Wer zahlt den Staat (nicht)?

Krise und Möglichkeit
VII. Krise? Welche Krise?
VIII. Die Möglichkeit ist Teil der Wirklichkeit

Anhang
IX. Informationsquellen


Dokumentiert

I. Rede der FSRK zur Eröffnung der Schulden- und Vermögensuhr am 13. Juli 2011

„Auf einer kleinen Bank, vor einer großen Bank

Worauf mag die Gabe des Fleißes,
die der Deutsche besitzt, beruhn?
Deutschsein heißt – der Deutsche weiß es –
Dinge um ihrer selbst willen tun.

Wenn er spart, dann nicht deswegen,
daß er später was davon hat.
Nein, ach nein, Geld hinterlegen
findet ohne Absicht statt.

Uns erfreut das bloße Sparen.
Geld persönlich macht nicht froh.
Regelmäßig nach paar Jahren
klaut Ihr’s uns ja sowieso.

Nehmt denn hin, was wir ersparten
und verluderts dann und wann.
Und erfindet noch paar Arten,
wie man pleite gehen kann.

Wieder ist es Euch gelungen,
wieder sind wir auf dem Hund,
unser Geld hat ausgerungen
– Ihr seid hoffentlich gesund.

Heiter stehn wir vor den Banken,
Armut ist der Mühe Lohn.
Bitte, bitte, nichts zu danken.
Keine Angst, wir gehen schon.

Und empfindet keine Reue.
Leider wurdet Ihr ertappt.
Doch wir halten Euch die Treue,
und dann sparen wir aufs Neue,
bis es wieder mal so klappt.“

Erich Kästner, erschienen in: „Gesang zwischen den Stühlen“, 1932. html

Liebe Mitstreitende,

es ist Zeit für eine Wende. Deshalb sind wir hier versammelt.

In den letzten 20 Jahren wurde die Universität, ebenso wie fast alle gesellschaftlichen Bereiche, die erhebliche Bedeutung haben zur Zivilisierung, Kultivierung und menschenwürdigen Entwicklung des Gemeinwesens, der Dienstbarkeit für schnöde ökonomische Interessen untergeordnet.

In den Wissenschaften durch Ba/Ma, Studiengebühren, Kürzungen von öffentlichen Hochschuletats zugunsten von Drittmittelfinanzierung aus der Wirtschaft, und gesellschaftlich durch die Verknappung von Wohnraum für Immobilienspekulation, Lohndrückerei mittels Kurz- und Leiharbeit, Aufweichung des Kündigungsschutzes, Arbeitsverdichtung, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und erhebliche Steuersenkungen zugunsten einer Konzentration des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums bei einigen Wenigen.
Diese bevölkerungsfeindliche Politik hat die soziale Krise weltweit verschärft. Das Ergebnis spiegelt sich in dem hier dargestellten Zahlenverhältnis.

Aus einem Artikel der FAZ zum Weltvermögensbericht 2011:
„[…]Die Zahl der Ultrareichen, die mehr als 30 Millionen Dollar in Form von Immobilien, Wertpapierdepots, Luxusgütern und Sammlerobjekten angehäuft haben, ist im vergangenen Jahr weltweit auf 103.000 Personen gestiegen. Sie machen zwar nur 0,9 Prozent aller Millionäre aus, halten aber 36,1 Prozent des Vermögens der reichen Oberschicht.
Neben der klassischen Geldanlage gönnt sich die Oberschicht auch Luxusartikel und Sammelobjekte, und zwar nicht nur, um zu prassen und zu prahlen. Meist versuchen sie, außerhalb der Finanzmärkte eine nachhaltige Wertsteigerung für einen Teil ihres Kapitals zu sichern.
Etwa 22 Prozent ihrer Luxusinvestitionen stecken die Millionäre dieser Welt in kleinere, edle Sammelobjekte wie Schmuck, Diamanten und hochkarätige Uhren. Vor allem große Diamanten erzielten im vergangenen Jahr auf den Weltmärkten Rekordpreise wegen der hohen Nachfrage aus der Oberschicht.“

„ Mehr Vermögen als vor der Finanzkrise“, FAZ vom 23. Juni 2011. html

Das ist perspektivlos. Und wo der gemeinsame Widerstand gegen die unmenschliche Auspressung noch fehlt, sind die Folgen zunehmend Burnout und Depression.

Doch der Widerstand wächst.
Weltweit werden der zynischen Zerstörung Erkenntnis, Aufklärung und eine sich neu herausbildende Solidarität entgegengesetzt.
In Wisconsin (USA) besetzten Hunderttausende das Parlament um die Entrechtung der Gewerkschaften durch die reaktionäre Regierung des Bundesstaates zu verhindern. Über die Auseinandersetzungen haben sich Hochschulmitglieder und Lehrer bis hin zu Polizisten massenweise gewerkschaftlich organisiert und wollen nicht mehr mit Lohnsenkungen Kriege finanzieren. Die Bewegung bezieht sich positiv auf die Kämpfenden in Ägypten und Tunesien, wo die über Jahrzehnte unterdrückte Bevölkerung für soziale Progression und gesellschaftliche Demokratisierung mit dem Anspruch der Realisierung der eigenen Würde solidarisch streitet. In Chile und Großbritannien demonstrieren Studierende und Gewerkschaften gegen neoliberale Konzernpolitik und für öffentliche statt privatisierte Bildung und Gesundheit. In Griechenland, Spanien und Portugal, wo sich international agierende Banken auf Kosten der Bevölkerung gesundstoßen wollen, radikalisiert sich die Bewegung mit kapitalismuskritischen Forderungen. Überall geht es darum, gemeinsam Verfügung zu erlangen über die eigenen Lebensverhältnisse, um sie menschenwürdig und friedlich zu gestalten.

Diesem auch hierzulande immer stärker zur Geltung gebrachten Anspruch soll, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten zu können, ein Riegel vermeintlicher Sachzwänge vorgeschoben werden. Dafür wurde das Dogma der Schuldenbremse erfunden. Statt die öffentliche Armut, die mit Steuererleichterungen für die Reichen hergestellt wurde, mit Steuereinnahmen von diesen zu beseitigen, sollen uns die staatlichen Ausgaben für Bildung, Soziales und Kultur als das eigentliche Problem eingeredet werden, um folgefalsch die sozialstaatlichen Errungenschaften noch weiter zusammenzustreichen.

Dass Kürzungen nötig seien, ist schlichtweg Blödsinn.

Für Hamburg gilt, was die Schulden- und Vermögensuhr anzeigt:
Die Schulden sind zwar nicht gering, aber der private Reichtum des reichsten Zehntels der Hamburger ist fünfmal größer und wächst zehnmal schneller als die Schulden. Dieses Zehntel wird jährlich um 7 Milliarden Euro reicher. Die Schulden wachsen gerademal um 700 Millionen Euro. Wir hätten da einen Lösungsvorschlag…

Gegen die Kürzungspläne des Hamburger Senats hat die Vollversammlung aller Mitglieder der Universität Hamburg am 30.6.2011 festgestellt, dass die Hochschulen jährlich „vergleichsweise bescheidene“ 80 Millionen Euro mehr brauchen, denn:

„Die Universität will einen Beitrag zur zivilen, ökologisch nachhaltigen, sozial verantwortlichen und demokratischen Entwicklung der Gesellschaft leisten.“

Wissenschaft in diesem Sinne, heißt, die rationale Auseinandersetzung und den gemeinsamen Erkenntnisgewinn über die dringend zu lösenden Fragen der Menschheitsentwicklung – die Überwindung von Krieg und sozialer Ungleichheit, Konkurrenz, Massenarbeitslosigkeit und Depression als Volkskrankheit, die Realisierung von echter demokratischer Teilhabe Aller, ein produktives Mensch-Natur-Austauschverhältnis und Gesundheit für Alle – im universitären Alltag und gesellschaftlich zu verallgemeinern. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse nach den menschlichen Ansprüchen einzurichten, statt umgekehrt.

Die Frage der Finanzierung von Wissenschaften ist demnach nicht nur eine des Geldes, sondern der gesellschaftlichen Entwicklungsrichtung.
Der gesellschaftlich erarbeitete Reichtum ist groß. Zu erwirken, dass er zukünftig zum Wohle Aller verwendet wird, ist unsere kollektive Aufgabe.

„In Erwägung, daß wir der Regierung
Was sie immer auch verspricht, nicht traun
Haben wir beschlossen, unter eigner Führung
Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.“

Bertholt Brecht „Resolution der Kommunarden“, geschrieben 1934, in: Svendborger Gedichte. Madrid 1937. html


Reichtum

II. Erläuterung zu den in der Schulden- und Vermögensuhr gezählten Vermögen

Datengrundlage:
Die öffentliche Verschuldung Hamburgs und deren Zuwachs werden fortlaufend vom Bund der Steuerzahler Hamburg veröffentlicht. Diese Daten werden vom Statistischen Bundesamt erhoben.
Die privaten Vermögen aller Hamburger und deren Zuwachs werden in ihrer Gesamtheit fortlaufend von ver.di Hamburg veröffentlicht, auf der Grundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP), einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Die bundesweit durchschnittliche Vermögensverteilung wird ebenfalls im SOEP ermittelt.
Nach den Zahlen von ver.di ergibt sich für die Gesamtheit der Hamburger Privathaushalte derzeit ein Vermögen von über 205,9 Milliarden Euro, das um 379 Euro pro Sekunde wächst. Um daraus die Daten für das Vermögen der reichsten 10 Prozent zu ermitteln, wurde die ebenfalls im SOEP ermittelte Vermögensverteilung zugrunde gelegt, nach der das reichste Zehntel der Bundesbevölkerung im Jahr 2007 61,1 Prozent des gesamten Privatvermögens besaß. Wendet man diese Verteilung auf die Gesamtvermögen in Hamburg und deren Zuwachs an, ergeben sich die an der Uhr dargestellten Zahlen.

Dabei ist zu berücksichtigen:

  1. Der Anteil des reichsten Zehntels am Gesamtvermögen ist bundesdurchschnittlich von 2002 (57,9 Prozent) zu 2007 (61,1 Prozent) im Gegensatz zu dem aller anderen Bevölkerungsgruppen gestiegen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Anteil bis 2011 weiter zugenommen hat und mittlerweile höher liegt als die angewandten 61,1 Prozent.
  2. Die 61,1 Prozent beziehen sich auf den Anteil des reichsten Zehntels am gesamten Privatvermögen in der Bundesrepublik. In Hamburg jedoch ist die Schere zwischen Arm und Reich größer als im Bundesdurchschnitt, sodass davon auszugehen ist, dass dieser Anteil der reichsten 10 Prozent hier noch größer ist.
  3. Da große Vermögen schneller wachsen als kleine, ist außerdem davon auszugehen, dass es eine noch drastischere Verteilung der Anteile an den Zuwachsraten gibt, als dies beim Durchschnitt der Vermögen der Fall ist.
    Der Anteil des reichsten Zehntels der Hamburger am gesamten Privatvermögen und an dessen Zuwachs liegt also real erheblich über den in der Uhr dargestellten Summen.

Was zählt als privates Vermögen:
Das SOEP erfasst verschiedene Vermögenskomponenten: selbstgenutzter und sonstiger Immobilienbesitz (unter anderem unbebaute Grundstücke, Ferien- oder Wochenendwohnungen), Geldvermögen (Sparguthaben, Spar- oder Pfandbriefe, Aktien oder Investmentanteile), Vermögen aus privaten Versicherungen (Lebens- oder private Rentenversicherungen, Bausparverträge), Betriebsvermögen (Besitz oder Beteiligung an einer Firma, Geschäft oder Betrieb), Sachvermögen in Form wertvoller Sammlungen wie Gold, Schmuck, Münzen oder Kunstgegenstände (ohne Pkw und Hausrat) sowie Schulden (Konsumenten- und Hypothekenkredite). Nach Abzug der Verbindlichkeiten vom Bruttovermögen erhält man das sozialökonomisch relevante Nettogesamtvermögen.


III. Private Vermögen

a) Wo wohnen die reichsten Deutschen?

Quelle: Der Tagespiegel, „Das große Geld liegt im Westen“, 7. August 2010, Artikel (html), Bild (jpg)

b) Wie ist der gesellschaftliche Reichtum verteilt?

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, „Die soziale Situation in Deutschland“, „Einkommen und Vermögen“, „Vermögensverteilung“, besucht am 2. Oktober 2011, Artikel (html), Grafik (pdf) vom 06.05.2009, Grafik (gif)

c) Und wie wird der große private Reichtum „genutzt“?

„Die Zahl der Ultrareichen, die mehr als 30 Millionen Dollar in Form von Immobilien, Wertpapierdepots, Luxusgütern und Sammlerobjekten angehäuft haben, ist im vergangenen Jahr weltweit auf 103.000 Personen gestiegen. Sie machen zwar nur 0,9 Prozent aller Millionäre aus, halten aber 36,1 Prozent des Vermögens der reichen Oberschicht.
Neben der klassischen Geldanlage gönnt sich die Oberschicht auch Luxusartikel und Sammelobjekte, und zwar nicht nur, um zu prassen und zu prahlen. Meist versuchen sie, außerhalb der Finanzmärkte eine nachhaltige Wertsteigerung für einen Teil ihres Kapitals zu sichern.
Etwa 22 Prozent ihrer Luxusinvestitionen stecken die Millionäre dieser Welt in kleinere, edle Sammelobjekte wie Schmuck, Diamanten und hochkarätige Uhren. Vor allem große Diamanten erzielten im vergangenen Jahr auf den Weltmärkten Rekordpreise wegen der hohen Nachfrage aus der Oberschicht.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Weltvermögensbericht: Mehr Vermögen als vor der Finanzkrise“, 22. Juni 2011. html

IV. Private Armut

Die Reallöhne der „unteren“ 90 Prozent der Einkommensbezieher sind in den letzten zehn Jahren gesunken:

Quelle: tagesschau.de, „DIW-Untersuchung zur Einkommensentwicklung – Löhne von Geringverdienern sinken trotz Aufschwungs“, 19. Juli 2011, Artikel (html), Grafik (jpg)

Dieser Negativtrend findet seine ursächliche Entsprechung in der Gewinnsteigerung der Unternehmen:

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung, Impuls 19/2009, „Verteilungsproblem ungelöst“, 2. Dezember 2009, Artikel (html), Artikel (pdf), Grafik (jpg), Grafik (tif)

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellte 2008 fest: Rund 11,5 Millionen Menschen sind von Armut bedroht. Das sind 14 Prozent der Bevölkerung. Damit ist der Anteil von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, seit Ende der 90er Jahre um ein Drittel gestiegen.


Neoliberale Steuerpolitik

V. Öffentliche Armut (Staatsverschuldung)

Staatsverschuldung bezeichnet die zusammengefassten Forderungen der Kreditgeber an den Staat. Dabei werden die Schulden Dritter gegenüber dem Staat nicht berücksichtigt.

Quelle: Wikipedia, „Staatsverschuldung Deutschlands“, besucht am 3. Oktober 2011, Artikel (html), Grafik (png) vom 25.03.2010

Hauptgrund dafür ist die neoliberale Steuersenkungspolitik zugunsten der Reichsten und der privaten Unternehmen.

„Weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt“, lautete das Bekenntnis der Regierung Helmut Kohl. 16 Jahre Schwarz-Gelb bedeuteten u.a. Steuersenkungen bei der Gewerbesteuer, Senkung des Spitzensteuersatzes von 56 auf 53 Prozent, Senkung der Besteuerung auf ausgeschüttete Gewinne, Erhöhung diverser Freibeträge bei der Berechnung von Gewinnsteuern.
Die rot-grüne Koalition (1998-2005) hat dann weiter Steuern gesenkt: Z.B. den Einkommensspitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent (alle jährlichen Einkommen über 52.152 Euro). Unternehmen wurden erheblich entlastet: Eine klassische Gewinnsteuer, die Körperschaftsteuer, wurde auf 25 Prozent gesenkt; vorher waren Teile von Unternehmensgewinnen mit 30 Prozent besteuert. Veräußerungsgewinne am Aktienmarkt wurden steuerfrei gestellt. So entgingen dem Staat in den Jahren 2000 bis 2006 rund 207 Milliarden Euro an Steuereinnahmen, im Durchschnitt also knapp 30 Milliarden Euro pro Jahr.
Die Große Koalition (2005-2009) hat durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte zunächst die Staatseinnahmen zu Lasten Aller leicht erhöht, aber gravierende Senkungen bei den Unternehmenssteuern vorgenommen. Insbesondere wurde erneut die Körperschaftsteuer von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt.
Schwarz-Gelb hat seit 2009 weitere Steuersenkungen im „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ beschlossen. Dieses enthält unter anderem die Neuregelungen bei der Erbschafts- und Unternehmensbesteuerung. Die Einnahmeeinbußen werden auf ca. 8,5 Milliarden Euro geschätzt.

Quelle: „‚Vorfahrt für Bildung!‘ Bildungs- und Wissenschaftsfinanzierung in der Krise“, Erklärung - der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik - des Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) - der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), 18. September 2010, Artikel (html), Artikel (pdf), Grafik (jpg)

Beides, öffentliche Armut und private Verarmung in Folge dieser negativen Umverteilung, bremsen die wissenschaftliche, technische und bildungsmäßige Entwicklung und senken den sozialen bzw. kulturellen Lebensstandard der Gesamtbevölkerung.


VI. Wer zahlt den Staat (nicht)?

Unter der Überschrift „7 Wahrheiten über Milliarden-Spender“ singt „Bild“ das Hohelied über die Großzügigkeit der Reichen und will unser Mitgefühl für sie wecken. Es heißt da: „REICHE ZAHLEN: Weil die Steuerbelastung in Deutschland mit steigendem Einkommen stark zunimmt, finanzieren die Reichen bei uns den Sozialstaat über Steuern und Abgaben. Das oberste Zehntel der Einkommensbezieher zahlt 55 Prozent des gesamten Steueraufkommens, das letzte Prozent der Superreichen finanziert alleine 22,2 Prozent.“
Das ist eine halbe Wahrheit, die eine ganze Lüge ist.
Nach Angabe der Bundesregierung ist es zwar richtig, dass das oberste Zehntel der Steuerpflichtigen mit Einkünften ab 70.150 Euro einen Anteil von 54,4 Prozent an der Einkommensteuer trägt. Falsch ist hingegen, dass sich dieser Anteil auf das „gesamte Steueraufkommen“ bezieht. Aus der unten stehenden Torten-Grafik ist zu entnehmen, dass selbst wenn man Lohnsteuer (24,5 Prozent) und veranlagte Einkommensteuer (4,7 Prozent) zusammenrechnet, alle Einkommenssteuerpflichtigen zusammen unter 30 Prozent der gesamten Steuereinnahmen des Staates erbringen. Nur davon zahlt das reichste Zehntel etwa die Hälfte.

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, „Die soziale Situation in Deutschland“, „Steuereinnahmen“, besucht am 3. Oktober 2011, Artikel (html), Artikel (pdf) vom 12.09.2011, Grafik (gif)

Der Löwenanteil der Steuereinahmen besteht mittlerweile aus Umsatzsteuer (2009: 177 Milliarden Euro = 34 Prozent) und den Verbrauchssteuern (also Energie-, Strom- oder Kfz-Steuer mit 95 Milliarden Euro = 18 Prozent). Diese indirekten Steuern belasten alle Einkommensbezieher vom Hartz IV-Empfänger bis zum Spitzenverdiener. Bezieher niedrigerer und mittlerer Einkommen reinvestieren aber durch direkten Konsum einen viel höheren Anteil ihres verfügbaren Einkommens (Mehrwertsteuer, Energiesteuer, Tabaksteuer, Umsatzsteuer …) als die „Bestverdiener“.
Die mittleren und niederen Einkommen erbrachten 1960 nur 38 Prozent des gesamten Steueraufkommens; 2006 waren es bereits 70 Prozent.

Quelle: ver.di Bundesvorstand Bereich Wirtschaftspolitik, „Staatsfinanzen und Steuern“, aktualisiert März 2010, S. 6. Vortrag (ppt)


Krise und Möglichkeit

VII. Krise? Welche Krise?

Nach der Weltwirtschaftskrise 2007/08 sind die privaten Vermögen in Deutschland erneut rapide gewachsen: Laut der Studie „Global Wealth Report 2011“ der Unternehmensberatung Boston Consulting Group sind der wichtigste Grund für diesen Kapitalzuwachs Gewinne der Privatanleger an den Finanzmärkten. Die Reichsten haben also „den Schreck der Kursstürze von 2008 abgeschüttelt“ (Handelsblatt):

Geldvermögen der privaten Haushalte und Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland seit 1991. Grafik: DGB/Zahlen: Deutsche Bundesbank; Allianz Global Investors
Quelle: DGB-Bundesvorstand, klartext 02/2011, „Privates Geldvermögen in Deutschland auf Höchststand“, 14. Januar 2011, Artikel (html), Artikel (pdf), Grafik (png)

Der jährliche Vermögenszuwachs des reichsten Zehntels der Hamburger beträgt pro Jahr aktuell mehr als 7 Milliarden Euro. Zur Unverhältnismäßigkeit: Das Welternährungsprogramm der UNO bedarf jährlich 4,2 Milliarden Euro, um ausfinanziert zu werden. Es wurde aber „in Folge der Krise“ auf 1,9 Milliarden Euro gesenkt.
Aber nicht nur Hamburger sind reich. Der „Global Wealth Report 2011“ weist aus, daß allein das Finanzvermögen von Privatanlegern weltweit von 90 Billionen US-Dollar (2009) auf 122 Billionen US-Dollar (2010) gestiegen ist. 0,9 Prozent der Weltbevölkerung besitzen nach derselben Studie 39 Prozent des privaten Geldvermögens.

„ Mehr Vermögen als vor der Finanzkrise“, FAZ vom 23. Juni 2011. Artikel (html), Grafik (jpg)


VIII. Die Möglichkeit ist Teil der Wirklichkeit

In der Krise hat die Ungleichheit weiter zugenommen, aber ebenso die Perspektive ihrer Überwindung.
„Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37.000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe World-Food-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte. Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. [...]
Das Welternährungsprogramm, das die humanitäre Soforthilfe leisten sollte, verlangte am 1. Juli für diesen Monat einen Sonderbeitrag seiner Mitgliedstaaten von 180 Millionen Euro. Nur 62 Millionen kamen herein. Das normale WPF (World-Food-Programm) Budget betrug 2008 sechs Milliarden Dollar. 2011 liegt das reguläre Jahresbudget noch bei 2,8 Milliarden. […]
Vergangenes Jahr - laut Weltbankstatistik - haben die 500 größten Privatkonzerne, alle Sektoren zusammen genommen, 52,8 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes, also aller in einem Jahr auf der Welt produzierten Reichtümer, kontrolliert. Die total entfesselte, sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung ist ihre Strategie. Es ist gleichgültig, welcher Mensch an der Spitze des Konzerns steht. […]
Die Hoffnung liegt im Kampf der Völker der südlichen Hemisphäre, von Ägypten und Syrien bis Bolivien, und im geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition in den westlichen Herrschaftsländern. Kurz: in der aktiven, unermüdlichen, solidarischen, demokratischen Organisation der revolutionären Gegengewalt.
Es gibt ein Leben vor dem Tod. Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammenleben werden.
Mutter Courage, aus dem gleichnamigen Drama von Bertolt Brecht, erklärt diese Hoffnung ihren Kindern:
‚Es kommt der Tag, da wird sich wenden
Das Blatt für uns, er ist nicht fern.
Da werden wir, das Volk, beenden
Den großen Krieg der großen Herrn.
Die Händler, mit all ihren Bütteln
Und ihrem Kriegs- und Totentanz
Sie wird auf ewig von sich schütteln
Die neue Welt des g’meinen Manns.
Es wird der Tag, doch wann er wird,
Hängt ab von mein und deinem Tun.
Drum wer mit uns noch nicht marschiert,
Der mach’ sich auf die Socken nun.‘

Ich danke Ihnen.“

Ungehaltene Rede Jean Zieglers zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, Juli 2011, Auszug.

Jean Ziegler war von 2000-2008 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, ist Mitglied des Beratenden VN-Ausschusses für Menschenrechte, Professor für Soziologie und saß für die Sozialdemokraten im Nationalrat der Schweiz. Er war von der Landesobfrau (Ministerpräsidentin) Salzburgs zur Eröffnung der traditionsreichen Festspiele eingeladen und sehr kurzfristig, vermutlich auf Druck der Sponsoren (z.B. Nestlé, Credit Suisse), wieder ausgeladen.

Quelle: ΚΚΕ, „Message of counterattack from the Acropolis rock“, 04. Mai 2010, Artikel (html), Bild (jpg)

Dieser Katalog ist im Internet zu finden unter:
www.fsrk.de/vermoegensuhr

V.i.S.d.P.: Fachschaftsrätekonferenz (FSRK), Till Petersen, c/o FSR Erziehungswissenschaft, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg.


Anhang

IX. Informationsquellen

Die in diesem Buch dargestellten Daten und Einschätzungen können in folgenden Quellen überprüft und zur Vertiefung nachgelesen werden:

  • Jean Ziegler: Der Aufstand des Gewissens: Die nicht-gehaltene Festspielrede. Salzburg 2011.
  • Ders.: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. Gütersloh 2009.
  • Lucas Zeise: Das Ende der Party. Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft. Köln 2008.
  • Herbert Schui: Gerechtere Verteilung wagen! Mit Demokratie gegen den Wirtschaftsliberalismus. Hamburg 2009.
  • OECD (2011), Society at a Glance 2011: OECD Social Indicators, OECD Publishing.
    http://dx.doi.org/10.1787/soc_glance-2011-en
  • Constanze Hacke: Grundsätze der Steuerpolitik, Informationen zur politischen Bildung, Heft 288, Bonn 2005.
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Die soziale Situation in Deutschland.
    Informationen zur Steuerpolitik, Einnahmen- und Ausgabensituation des Staates, Berlin 2010.
  • http://www.bpb.de/wissen/5OW45G,0,0,Schulden_des_%F6ffentlichen_Gesamthaushaltes.html
  • Bundesregierung: Dritter Armuts- und Reichtumsbericht, Bundestagsdrucksache 16/9915, Berlin 2008.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Armutsbericht_der_Bundesregierung
  • Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags: Die Schuldenbremse des Grundgesetzes. Berlin 2009.
    http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2009/schuldenbremse.pdf
  • Fritz Helmedag: Staatsschulden als permanente Einnahmequelle. In: Wirtschaftsdienst 2010/9.
  • Wochenbericht des DIW: Vermögen in Deutschland wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen, 45/2007.
    Wochenbericht des DIW: Staatsverschuldung und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanz: öffentliche Armut, privater Reichtum, 50/2010, S. 2-8.
    http://www.diw.de/de/diw_01.c.100404.de/publikationen_veranstaltungen/publikationen/wochenbericht/wochenbericht.html
  • Institut für Makroökonomie und Sozialforschung, Homepage
  • Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, Homepage
  • Klemens Himpele, „Die Umsetzbarkeit der Schuldenbremse auf Länderebene“, Studie im Auftrag der Fraktionsvorsitzendenkonferenz der LINKEN, Wien 2010. pdf
  • Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hg.), „Richtig gerechnet: Gute Bildung ist finanzierbar. Das steuerpolitische Konzept der GEW.“, Frankfurt am Main, 2011. html
  • Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, „Konzept Steuergerechtigkeit“, Gerechte Steuern für mehr Zukunftsvorsorge, Berlin 2009. html
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Mehr Vermögen als vor der Finanzkrise“, 23. Juni 2011. html
  • Joseph E. Stiglitz, „Stoppt die rechten Krisentreiber“: in: Financial Times Deutschland, 11. Juli 2011. html
  • Joseph E. Stiglitz, „Deutschland muss mehr Schulden machen“, Interview in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. August 2011. html
  • Spiegel-Online, „Die Forbesliste der Reichsten.“ html

http://www.fsrk.de/artikel_263.html [Stand 10. September 2011]


Materialkatalog zur Schulden- und Vermögensuhr vor der Universität Hamburg