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FSRK
Wolfgang Klafki

Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts

Klafki, Wolfgang: Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. In: ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik. Weinheim, Basel 1985, S. 12-30.

I.

In der pädagogischen Diskussion der letzten Jahrzehnte ist in der Bundesrepublik von verschiedenen Positionen aus immer wieder in Zweifel gezogen worden, ob der Bildungsbegriff noch oder wieder als zentrale Ziel- und Orientierungskategorie pädagogischer Bemühungen verwendet werden könne. Wo das verneint wurde oder wird, stößt man auf Argumente folgender Art:

— Es handele sich um einen idealisierend-überhöhenden Begriff, der nicht geeignet sei, das zu bezeichnen, was im alltäglichen pädagogischen Umgang z.B. von Eltern und jungen Menschen und vor allem auch in den Lehr- und Lernprozessen pädagogischer Institutionen, insbesondere der Schule, tatsächlich ablaufe oder erreichbar sei.
Oder:
— „Bildung“ sei ein historisch überholter, den pädagogischen Aufgaben in einer demokratischen Gesellschaft unangemessener Begriff; denn er sei Ausdruck der gesellschaftlichen Lebensbedingungen und des Selbstverständnisses einer begrenzten sozialen Schicht innerhalb der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts und ihrer vor- und undemokratischen gesellschaftlich-politischen Strukturen, nämlich Ausdruck des Selbstverständnisses des wohlhabenden Bildungsbürgertums. Wenn man diesen historisch-gesellschaftlichen Ursprung der Bildungsidee verkenne oder ausklammere, den Begriff verallgemeinere, ihn in die veränderte historisch-gesellschaftliche Gegenwartssituation übersetze und zugleich als pädagogischen Orientierungsbegriff auf die Zukunft hin verwende, dann werde er zu einer ideologischen Formel, d.h. zum Ausdruck nachweisbar falschen gesellschaftlichen Bewußtseins.
— Schließlich nenne ich noch ein drittes kritisches Argument; es handelt sich eigentlich um eine Variante des eben skizzierten Einwandes: Der Bildungsbegriff sei ein unpolitischer Begriff, er habe mindestens für Teile jenes deutschen Bildungsbürgertums seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und in der Folgezeit eine Art Ersatzfunktion gehabt - Bildung als Ersatz für die nicht erfüllten Hoffnungen auf eine Wandlung des monarchisch-feudalen Obrigkeitsstaates zu einem offenen, liberalen Verfassungsstaat republikanischen Zuschnitts, in dem das geistig mündig gewordene Bürgertum entscheidende politische Mitbestimmungs- und Gestaltungsfunktionen hätte gewinnen können.

Diese und ähnliche Einwände enthalten gewiß partielle Wahrheitsmomente. Indessen rechtfertigen sie m.E. nicht den Verzicht auf den Bildungsbegriff als Grundkategorie im Hinblick auf unsere pädagogischen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben, und zwar aus zwei Gründen. Der erste ist systematischer Art:

Eine zentrale Kategorie wie der Bildungsbegriff oder ein Äquivalent dafür ist unbedingt notwendig, wenn die pädagogischen Bemühungen um die nachwachsende Generation und der heute unabdingbar gewordene Anspruch an unser aller, also auch der Erwachsenen „lebenslanges Lernen“ nicht in ein unverbundenes Nebeneinander oder gar Gegeneinander von zahllosen Einzelaktivitäten auseinanderfallen soll, wenn vielmehr pädagogisch gemeinte Hilfen, Maßnahmen, Handlungen und individuelle Lernbemühungen, begründbar und verantwortbar bleiben oder werden sollen.
Diese Notwendigkeit einer übergreifenden pädagogischen Zielkategorie erweist sich auch daran, daß in manchen neueren, jedenfalls in sich kritisch verstehenden pädagogischen Theorien zwar z.T. auf den Bildungsbegriff verzichtet wird, aber nicht im Sinne einer gleichsam „ersatzlosen Streichung“, sondern so, daß an seine Stelle, aber in analoger Funktion, andere Zentralbegriffe treten. Begriffe wie „Emanzipation“ oder „Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit“ im Sinne oberster Lernziele oder allgemeinster Prinzipien für Lernzielbestimmungen sollen strukturell genau das gleiche leisten wie die Kategorie der Bildung: sie bezeichnen nämlich zentrierende, übergeordnete Orientierungs- und Beurteilungskriterien für alle pädagogische Einzelmaßnahmen.

Diesem systematischen Argument tritt nun ein historisches zur Seite: Es läßt sich zeigen, daß jener keineswegs uniforme, sondern aspektreiche Bildungsbegriff, wie er im Zeitraum zwischen etwa 1770 und 1830 entwickelt und erst seit dieser Zeit zu einem Zentralbegriff des pädagogischen Denkens im deutschsprachigen Raum geworden ist - bei Lessing, Herder und Kant, Goethe und Schiller, Pestalozzi, Diesterweg und Fröbel, Schleiermacher, Herbart und Humboldt, Fichte und Hegel -, ein durchaus kritisch-progressiver, nicht zuletzt ein teils ausdrücklich, teils mindestens potentiell auch gesellschaftskritischer Begriff gewesen ist. Das kann an dieser Stelle nicht im Detail und in den Deutungsvarianten, die man bei den genannten Denkern antrifft, nachgewiesen werden. Ich muß mich auf ein sehr knappes Resümee beschränken und fasse die vorher genannten Denker hier - gewiß vereinfachend - unter dem Begriff der philosophisch-pädagogischen Klassik zusammen: In ihrem Bildungsbegriff ist die Zentralidee der Aufklärung „aufgehoben“, die Kant als den Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit bezeichnete, m.a.W.: Anspruch und Möglichkeit jedes Menschen, zur Selbstbestimmungsfähigkeit zu gelangen, weiterhin der Gedanke vom Recht jedes Menschen auf pädagogisch unterstützte Entfaltung aller seiner Möglichkeiten (- jene Zeit spricht oft, so Pestalozzi wie Humboldt, von der Entwicklung aller „Kräfte“ des Menschen -); weiterhin ist konstitutiv für jenen Bildungsbegriff der deutschen Klassik die Überzeugung, daß die Entfaltung der Vernunftfähigkeit in jedem Menschen zugleich die Möglichkeit eröffnet, daß die Menschen im vernunftgemäßen Miteinander-Sprechen und -Diskutieren und im reflexiven Verarbeiten ihrer Erfahrungen eine fortschreitende Humanisierung ihrer gemeinsamen Lebensbedingungen und eine vernünftige Gestaltung ihrer gesellschaftlich-politischen Verhältnisse erreichen, unbegründete Herrschaft abbauen und ihre Freiheitsspielräume vergrößern können. Explizit - so etwa bei Schiller, Schleiermacher, Fichte, Diesterweg - und mindestens implizit - so etwa bei Humboldt - schloß dieses Bildungsverständnis immer eine Kritik an fragwürdigen Traditionen, Besitz- und Herrschaftsverhältnissen ein, die der Entfaltung jener mit dem Bildungsbegriff gemeinten menschlichen Möglichkeiten entgegenstanden oder sie bewußt und gezielt verhinderten. Hier setzte später - ich übergehe Vermittlungsglieder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt in der Arbeiterbewegung und im ersten Drittel unseres Jahrhunderts - u. a. Heinz-Joachim Heydorn an, wenn er einem seiner Werke den Titel gab, der ein Leitmotiv aller seiner bildungstheoretischen Schriften zwischen 1946 und 1974 bezeichnet: „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ (1970; jetzt als Bd. 1 seiner „Bildungstheoretischen Schriften“, Frankfurt/M. 1979). Dort heißt es: „Es ist das Ziel aller Bildung, Macht (bzw. Herrschaft; W. Kl.) aufzuheben, den freigewordenen Menschen an ihre Stelle zu setzen“ (Heydorn 1979, S. 336) oder - in einer Formulierung, die die Dialektik des Problems prägnant bezeichnet: „Bildungsfragen sind Machtfragen; die Frage der Bildung ist die Frage nach der Liquidation der Macht“ (ebd., S. 337; vgl. Heydorn, Bd. 1, S. 259). - Heydorn wollte, indem er auf die Einheit des Gedankens individueller Selbstbestimmung und der Humanisierung und Demokratisierung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in der ursprünglichen Bildungsidee hinwies, weder die historisch bedingten Grenzen des gesellschaftlich-politischen Bewußtseins jener Denker der deutschen Klassik leugnen noch jenen Prozeß seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts vergessen machen, den man über weite Strecken als Verfallsgeschichte der klassischen Bildungsidee bezeichnen muß [1]. Ich weise auf drei Momente dieses Vorganges hin:
— Die gesellschaftlich-politisch progressiven Momente des klassischen Bildungsbegriffs wurden programmatisch ausgeschieden zugunsten eines vermeintlich unpolitischen Verständnisses dessen, was Bildung meine.
— Um so deutlicher trat jedoch die tatsächliche politisch-gesellschaftliche Funktion einer so verstandenen Bildung in Kraft: Bildung wurde zum Privileg der wohlhabenden, sich dem restaurierten Obrigkeitsstaat anpassenden oder durch ihn profitierenden Gesellschaftsschichten, im Sinne jener Ehe von „Besitz und Bildung“, die keineswegs nur von sozialistischer Seite, sondern z.B. ebenso von Nietzsche oder von einem liberal-bürgerlichen pädagogischen Autor wie dem großen Schulhistoriker Friedrich Paulsen kritisiert wurde [2]. Jene Bindung von Bildung an Besitz bedeutete, daß Bildung nun explizit als Abgrenzungskriterium gegen die niederen Volksklassen, die ausdrücklich als „arbeitende“ und „besitzlose“ bezeichnet wurden, verstanden und damit als ein Mittel der „Stabilisierung“ der gesellschaftlich-politischen Herrschaftsverhältnisse wirksam wurde, während etwa Schleiermacher, Fichte, Humboldt, Diesterweg Bildung ausdrücklich als dynamisches Moment der Überwindung von gesellschaftlich bedingter Ungleichheit verfochten hatten. Es liegt auf der Hand, daß jene gesellschaftlich konservative oder restaurative Funktion die Selbstdeutung der Bildung als unpolitisches Phänomen der Sache nach Lügen strafte, als Ideologie, erweisbar falsches, interessengebundenes gesellschaftliches Bewußtsein entlarvte.
— Schließlich sei als drittes Moment jener Verfallsgeschichte darauf hingewiesen, daß die Einheit von übergreifenden inhaltlichen Orientierungen und Individualisierung, die nicht zuletzt Humboldts Bildungsidee gekennzeichnet hatte, nun um das Moment der Individualisierung verkürzt und auf einen umfänglichen Kanon generell verbindlicher Stoffe reduziert oder besser: darauf festgeschrieben wurde. Die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Bereich des höheren Schulwesens immer wieder aufbrandende Opposition gegen solche Fixierungen, die dann - bis in die Weimarer Zeit hinein - zur Zulassung verschiedener Schultypen führte, vermochte das Prinzip allenfalls zu modifizieren; denn nun wurde jeweils innerhalb jedes Typs ein bindender Kanon fast ohne Individualisierungsmöglichkeiten festgelegt.

Es ist hier schon aus Zeitgründen nicht möglich, die Geschichte des Bildungsproblems - als Theorie- und Realgeschichte - im 19. und 20. Jahrhundert eingehender zu verfolgen und in diesem Zusammenhang auch jene vereinzelten Bemühungen zu kennzeichnen, die darauf gerichtet waren, die pädagogisch und gesellschaftlich progressiven Momente im klassischen Bildungsbegriff herauszuarbeiten und selbständig weiterzudenken. -, Genau dieses ist m. E. - den dominierenden Trends entgegen - heute wieder unsere Aufgabe: die Denkansätze jener großen Epoche der Geschichte des pädagogisch-philosophisch-politischen Denkens produktiv-kritisch aufzunehmen und sie auf die historisch zweifellos tiefgreifend veränderten Verhältnisse unserer Gegenwart und auf Entwicklungsmöglichkeiten in die Zukunft hinein zu durchdenken, wie das etwa Heinz Joachim Heydorn [3] und Herwig Blankertz [4], Max Horkheimer [5], Theodor W. Adorno [6] und Jürgen Habermas [7] , K.-E. Nipkow [8] oder neuerdings bildungspolitische Gremien innerhalb der SPD [9] - um nur einige Namen und Positionen zu nennen - in jüngerer Zeit versucht haben.

Bildung muß in diesem Sinne zentral als Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsfähigkeit des einzelnen und als Solidaritätsfähigkeit verstanden werden:
— als Fähigkeit zur Selbstbestimmung über die je eigenen, persönlichen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zwischenmenschlicher, beruflicher, ethischer, religiöser Art;
— als Mitbestimmungsfähigkeit, insofern jeder Anspruch, Möglichkeit und Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hat;
— als Solidaritätsfähigkeit, insofern der eigene Anspruch auf Selbst- und Mitbestimmung nur gerechtfertigt werden kann, wenn er nicht nur mit der Anerkennung, sondern mit dem Einsatz für diejenigen verbunden ist, denen eben solche Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten auf Grund gesellschaftlicher Verhältnisse, Unterprivilegierung, politischer Einschränkungen oder Unterdrückungen vorenthalten oder begrenzt werden.

II.

Eine der zentralen Bestimmungen des Bildungsbegriffs der deutschen Klassik und gegenwärtiger, dort anknüpfender bildungstheoretischer Bemühungen besteht darin, daß Bildung als Allgemeinbildung ausgelegt wird. Darin sind drei Bedeutungsmomente enthalten:
— „Allgemein“ besagt hier, daß Bildung eine Möglichkeit und ein Anspruch aller Menschen der betreffenden Gesellschaft bzw. des betreffenden Kulturkreises, ja letztlich der Menschheit im ganzen ist; insofern ist dieses Bedeutungsmoment immer gegen die Festschreibung gesellschaftlich bedingter Ungleichheit der Chancen zur Entwicklung menschlicher Fähigkeiten gerichtet.
— „Allgemein“ zielt weiterhin auf das Insgesamt der menschlichen Möglichkeiten, sofern sie mit der Selbstbestimmung und der Entwicklung aller anderen Menschen vereinbar sind. Herbart sprach vom Prinzip der Vielseitigkeit, Pestalozzi und Humboldt von der allseitigen Bildung des Menschen als erkennendes, ethisch und politisch entscheidendes und handelndes, emotional empfindendes und wertendes, zwischenmenschliche Beziehungen vollziehendes, ästhetisch wahrnehmendes und gestaltendes, nicht zuletzt auch als produktiv arbeitendes und seine Welt handwerklich-technisch veränderndes Wesen. Dieses Prinzip bleibt, so meine ich, gültig, unabhängig davon, ob man - wie es für die frühen Bildungstheoretiker zutrifft - jene menschlichen Möglichkeiten oder Fähigkeiten als eine überhistorische Mitgift jedes Menschenwesens betrachtet oder ob man - im Sinne einer historischen Anthropologie - die menschlichen Möglichkeiten als ein sich in der Menschheitsgeschichte erst entwickelndes und daher in die Zukunft hinein jeweils auch veränderbares Potential begreift.
— Die Bestimmung „allgemein“ im Begriff der Allgemeinbildung meint schließlich, daß Bildung sieh zentral im Medium des Allgemeinen vollzieht oder vollziehen solle, d.h. in der Aneignung von und der Auseinandersetzung mit dem die Menschen gemeinsam Angehenden, mit ihren gemeinsamen Aufgaben und Problemen, den in der Geschichte bereits entwickelten Denkergebnissen und Lösungsversuchen, den schon erprobten Möglichkeiten, den schon erworbenen Erfahrungen des Menschen als Individuums und zugleich als gesellschaftlichen Wesens, den bereits formulierten Fragestellungen, aber auch den sich abzeichnenden zukünftigen Entwicklungen und den darauf bezogenen, alternativen Lösungsvorschlägen. Damit wird deutlich: Solche Aneignung und Auseinandersetzung mit dem „Allgemeinen“ geschieht nicht, um die zu Bildenden bzw. sich Bildenden auf die bisherige Geschichte festzulegen, sondern um sie zum Begreifen und zur Gestaltung ihrer historisch gewordenen Gegenwart und ihrer jeweiligen Zukunft in Selbstbestimmung freizusetzen. - Ich habe bereits angedeutet, daß ich alle drei Bedeutungsmomente des Begriffes „Allgemeinbildung“ nach wie vor für gültig halte, und ich kenne kein schlüssiges Argument, das gegen diese Auffassung spräche. Von hier aus lassen sich einige Konsequenzen für ein unserer Gegenwart angemessenes Allgemeinbildungskonzept entwickeln.

III.

Das erste Moment - Allgemeinbildung als Bildung für alle, anders formuliert: das schon von den meisten Denkern der deutschen Klassik - mindestens im Ansatz - vertretene Prinzip, das Ausmaß des Gemeinsamen in den Einstellungen, Erkenntnissen und Fähigkeiten aller soweit wie irgend möglich auszudehnen - führt, schulorganisatorisch gesehen, mit Notwendigkeit zur Forderung nach der Integrierten Gesamtschule, inhaltlich nach einem konsequenten Ausbau des Kernunterrichts in Gesamtschulen bzw. dort, wo (einstweilen) an der Mehrgliedrigkeit des sog. allgemeinbildenden Schulwesens festgehalten wird, eines breiten Bereichs inhaltlich übereinstimmenden bzw. gleichwertigen Unterrichts als des Zentrums gemeinsamen Lernens, zugleich aber nach intensiven Bemühungen um den Ausgleich der in der familiären, weithin immer noch schichtspezifischen Sozialisation begründeten unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Erwachsenen im Bereich der tertiären Bildung. Man kann zeigen, daß die diesbezüglichen Möglichkeiten bis heute nicht entfernt ausgeschöpft sind. Insofern sind die derzeit starken Tendenzen, die seit dem Ende der 60er begonnene Bildungsreform abzubrechen und z.T. zurückzuschrauben, ein Rückfall hinter bereits erreichte historische Positionen; man muß fragen, in wessen Interesse das wohl liegen kann.
Gewiß zieht man sich mit dem Plädoyer für die Integrierte Gesamtschule und für die Fortführung bzw. Wiederbelebung entschiedener Bemühungen um kritisch reflektierte kompensatorische Bildungsmaßnahmen im Sinne des Abbaus von gesellschaftlich bedingten, ungleichen Bildungschancen z.Zt. den Vorwurf des Utopismus zu. Indessen ist es nicht die Aufgabe einer bildungstheoretischen Argumentation, sich irgendwelchen z.Zt. dominierenden Trends anzupassen, sondern zunächst einmal den Versuch zu machen, einen konsequenten Gedankengang zu entwickeln, der dann selbstverständlich der Diskussion und der Kritik auf seine Stichhaltigkeit hin ausgesetzt werden muß.
Auch mit dem Festhalten an der Gesamtschulidee befindet man sich sozusagen in illustrer historischer Gesellschaft. Humboldt etwa konzipierte das Schulsystem im Prinzip durchaus als gestufte Einheitsschule, so sehr er sich bei den konkreten Realisierungsversuchen zur Neuordnung des preußischen Schulwesens, in der kurzen Reformphase um 1810, auch zu Zugeständnissen an die realen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse genötigt sah. - Was nun unsere Gegenwart anbetrifft, so können manche Schwächen der heutigen Gesamtschulen keineswegs geleugnet werden. Sie liegen aber m.E. großenteils darin begründet, daß diese Schulform dazu gezwungen worden ist, viel mehr äußerlich differenzierende, selektive, das Prinzip der möglichst breiten Gemeinsamkeit unterlaufende unterrichtsorganisatorische und inhaltliche Momente einzubauen, als das ihrem Grundgedanken entspricht, weiterhin darin, daß der Entwicklungszeitraum einstweilen noch viel zu kurz gewesen ist, um ermitteln zu können, was durch langfristige, geduldige, didaktisch reflektierte und durch wissenschaftliche Forschung unterstützte pädagogische Arbeit möglich wäre, wenn man es - pädagogisch und schulpolitisch - nur wollte und zuließe.

IV.

Ich übergehe zunächst den zweiten Bedeutungsaspekt des Begriffes „Allgemeinbildung“ - Bildung als Entwicklung der Vielseitigkeit oder Allseitigkeit- und wende mich dem dritten Gesichtspunkt zu: Bildung im Medium des Allgemeinen.
Den historischen Hintergrund des damit angesprochenen Fragenkreises bildet das sog. Kanonproblem. Dieses Problem ist lange Zeit als Frage nach einem verbindlichen Kreis von Kulturinhalten verstanden worden, die im historischen Entwicklungsprozeß den Rang klassischer Leistungen menschlicher Produktivität - in Wissenschaft, Kunst, Geschichte, ethischer Lebensgestaltung und Reflexion - gewonnen hätten und die den substantiellen Kern der Allgemeinbildung ausmachen sollten, jeweils in die Verständnisebene von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen übersetzt.
Wir müssen die Frage heute m.E. neu, und zwar auf dem Stand eines kritischen, historisch-gesellschaftlich-politischen und zugleich pädagogischen Bewußtseins stellen. Meine These lautet: Bildung bzw. Allgemeinbildung bedeutet, in der hier angesprochenen Perspektive, ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der gemeinsamen Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft gewonnen zu haben, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, sich ihnen zu stellen und am Bemühen um ihre Bewältigung teilzunehmen Ich bin der Meinung, daß sich über solche Zentralprobleme, sog. „Schlüsselprobleme“ unserer Gegenwart und der vor uns liegenden Zukunft, auf der Ebene der Gestalter von Richtlinien, Lehrplänen, Curricula, aber auch auf der Ebene des konkreten Unterrichts unter Mitbestimmung von Eltern und Schülern, bei offener Diskussion ein jeweils hinreichender Konsens herstellen lassen müßte, eine Übereinstimmung, die freilich immer wieder - gemäß sich wandelnden historischen Verhältnissen - zur Diskussion gestellt und neu gewonnen werden muß. Wohlgemerkt: Ich unterstelle nicht die Erreichbarkeit eines völligen Konsenses über die Lösungen solcher Schlüsselprobleme unserer Zeit und auch nicht über die Wege zu etwaigen Lösungen. Ich unterstelle nur die Möglichkeit, hinsichtlich der Problemstellungen zu einer hinreichenden Übereinstimmung zu kommen. Dabei denke ich an Probleme folgender Art:
die Friedensfrage und das Ost-West-Verhältnis
die Umweltfrage
— Möglichkeiten und Gefahren des naturwissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Fortschritts
— sog. „entwickelte Länder“ und „Entwicklungsländer“ sowie das Nord-Süd-Gefälle
— soziale Ungleichheit und ökonomisch-gesellschaftliche Machtpositionen
— Demokratisierung als generelles Orientierungsprinzip der Gestaltung unserer gemeinsamen Angelegenheiten, also z.B. auch der Wirtschaft, oder Begrenzung auf Teilbereiche?
— Arbeit und Arbeitslosigkeit in ihrer ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Bedeutung und in ihrer Bedeutung für die individuelle und soziale Identität des einzelnen
— Arbeit und Freizeit - sind wir wirklich auf dem Wege zu einer Freizeitgesellschaft?
— Freiheitsspielraum und Mitbestimmungsanspruch des einzelnen und kleiner sozialer Gruppen einerseits und das System der großen Organisationen und Bürokratien andererseits
— das Verhältnis der Generationen zueinander
— die menschliche Sexualität und das Verhältnis der Geschlechter zueinander traditionelle und alternative Lebensformen
— individueller Glücksanspruch und zwischenmenschliche Verantwortlichkeit
— Recht und Grenzen nationaler Identitätsbestimmung angesichts der Unabdingbarkeit universaler Verantwortung
— Deutsche und Ausländer in Deutschland
— Behinderte und Nichtbehinderte
— Möglichkeiten und Problematik der Massenmedien und ihrer Wirkung
— die wissenschaftliche Wirklichkeitsbetrachtung, die sog. „Verwissenschaftlichung“ der modernen Welt und das alltägliche Verhältnis von Mensch und Wirklichkeit.

Allgemeinbildung heißt im Blick auf solche Schlüsselprobleme [10] also: Auf den verschiedenen Stufen des Bildungsganges bzw. des Bildungswesens sollte jeder junge Mensch und jeder Erwachsene mindestens, in einige solcher Zentralprobleme - im Sinne exemplarischen, gründliche, verstehenden bzw. entdeckenden Lernens - eingedrungen sein. Verbindlich daran ist die Anforderung, problemsichtig zu werden, ein differenziertes Problembewußtsein zu gewinne; hingegen kann es nicht um die Festlegung auf eine einzige Sichtweise und einen bestimmten der in der Diskussion befindlichen Problemlösungsvorschläge gehen - das wäre mit dem Anspruch auf Entwicklung der Selbstbestimmungsfähigkeit unvereinbar. Vielmehr gilt es, in exemplarischem Unterricht jeweils einige historische Wurzeln solcher Probleme aufzudecken, einige der zentralen, unterschiedlichen Problemlösungsvorschläge und die dahinter stehenden Interessenperspektiven und Einschätzungen aufzuklären, emotionale Ansprechbarkeit - als problemsichtige Sensibilität - auszubilden und erste Handlungserfahrungen und -fähigkeiten zu entwickeln. Bildung im Sinne des Selbst- und Mitbestimmungs- sowie des Solidaritätsprinzips ist dann nicht zuletzt durch die Einsicht gekennzeichnet, daß es notwendig ist, einerseits jeweils ein Höchstmaß an Gemeinsamkeiten anzustreben, andererseits aber doch immer die Möglichkeit zu unterschiedlichen und kontroversen Auffassungen, Problemlösungsversuchen, Lebensentwürfen zu gewährleisten und zu verteidigen. Bildung ist in diesem Verständnis zentral durch die Fähigkeit charakterisiert, im Sinne jener Einsicht zu handeln, also Kontroversen rational austragen zu können, d.h. aber auch, sich selbst und anderen die argumentative Begründung eigener Positionen und Entscheidungen abzuverlangen. Sie hat also nichts mit Beliebigkeit und prinzipienlosem Pluralismus zu tun.
Sie besteht in der im Durcharbeiten einiger solcher Zentralprobleme gewonnenen Fähigkeit, für eigene, begründbare Überzeugungen sich einzusetzen und argumentativ zu werben und sie doch für Kritik offenzuhalten, die Freiheit zu eigenen Wertungen und Entscheidungen individuell und kollektiv durchzusetzen und gleichzeitig die Möglichkeit von Alternativen zur eigenen Position nicht manipulativ oder durch offenen oder versteckten Einsatz von Gewalt ausschalten zu wollen.
In den bisherigen Hinweisen sind bereits einige Teilfähigkeiten angesprochen worden, die als notwendige Momente zur bisher gekennzeichneten Dimension einer zeitgemäßen Allgemeinbildung gehören. Drei solcher Grundfähigkeiten, die einander wechselseitig bedingen, hebe ich noch einmal ausdrücklich heraus:

— Kritikfähigkeit einschließlich der Fähigkeit zur Selbstkritik
— Argumentationsfähigkeit
— Empathie im Sinne der Fähigkeit, eine Situation, ein Problem, eine Maßnahme aus der Lage der jeweils anderen Betroffenen sehen zu können.

Es handelt sich dabei nicht um rein formale Funktionen, sondern um Fähigkeiten, die inhaltsbezogen sind, daher bestimmte inhaltliche Einsichten und Kategorien voraussetzen oder einschließen, ohne doch auf ganz bestimmte Teilprobleme begrenzt zu sein. Kritikfähigkeit und Argumentationsfähigkeit schließen z.B. ein Gefüge von möglichen Sach- und Denkbeziehungen ein, deren Sinn man jeweils an einigen exemplarischen Beispielen erfaßt haben muß, um mit ihnen operieren zu können: Ich muß meine eigenen oder fremde Überlegungen daraufhin befragen bzw, so anlegen können, daß ich zwischen Ursachen und Folgen, Anlässen und Reaktionen, Vermutungen und Beweisen, Voraussetzungen und Schlüssen, notwendigen und möglichen Folgerungen aus einer Feststellung oder Annahme unterscheiden kann. - Oder: Um empathiefähig sein zu können, muß ich an mir selbst und im Umgang mit anderen erfahren und bewußt nachvollzogen, reflektiert haben, daß unterschiedliche Situationen, Erfahrungen, Rollen, Interessen dazu führen können, daß man ein Problem, eine Handlung, eine Entscheidungsfrage in verschiedenen Perspektiven sieht und daß man zu einem Konsens oder Kompromiß ohne Anwendung von Zwang oder Überredung nur kommen kann, wenn man aus jener Erkenntnis heraus Recht und Grenze der jeweiligen Situation argumentativ zu klären vermag.

V.

Die drei hier unterschiedenen Bedeutungsdimensionen des Allgemeinbildungsbegriffs bezeichnet analytische Unterscheidungen, also keine realiter getrennten Sachverhalte. Insofern wurde notwendigerweise schon in den vorangehenden Überlegungen - mindestens implizit - auch das zweite Moment der begrifflichen Differenzierung, dem wir uns jetzt ausdrücklich zuwenden, angesprochen: Allgemeinbildung als Entwicklung der Vielseitigkeit bzw. „Allseitigkeit“. Die Allgemeinbildungsfrage hat, wie bereits angedeutet wurde, nicht nur eine kognitive Dimension, es geht dabei nicht nur um Einsichten und intellektuelle Fähigkeiten, sondern durchaus immer auch darum, emotionale Erfahrungen und Betroffenheiten zu ermöglichen, zum Ausdruck zu bringen und zu reflektieren und die moralische und politische Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit anzusprechen. Die Friedensproblematik, die Frage alternativer Lebensformen, die Problematik von Arbeit und Arbeitslosigkeit, Sexualität, sozialer Ungleichheit usf. allein auf der kognitiven Ebene anzusprechen, sich allein in dieser Dimension damit auseinanderzusetzen, hieße, jene Probleme in ihrer Bedeutsamkeit für uns und in ihrem Handlungsanspruch an uns zu verkennen, hieße nicht zuletzt: die Interessenperspektiven des jungen Menschen zu verfehlen. Solche Themen dürfen nicht im gängigen Sinne zum „Schulstoff“ verkommen, und daher müssen die Bildungseinrichtungen und die pädagogischen Bemühungen in ihnen sich für die außerschulische Wirklichkeit der Lernenden, ihre schon vorhandenen oder möglichen Erfahrungen und Kontroversen öffnen; sie müssen diese Wirklichkeit bewußt und gezielt - in Erkundungen, Projekten, Praktika - aufsuchen und das dort Erfahrene im Rahmen der Schule zur Diskussion stellen. Freilich ist es eine schwierige, weithin immer noch ungelöste Frage, ob und wie Bildungseinrichtungen Kindern und jungen Menschen im Hinblick auf solche Schlüsselprobleme unserer Zeit auch erste Handlungserfahrungen ermöglichen können, und der Anspruch bleibt hoch, selbst wenn man sich klarmacht, daß Kinder- und Jugendbildung in dieser Hinsicht bestenfalls bis an die Schwelle ernster Entscheidungen, Verantwortlichkeiten, Handlungen vordringen können, Bildung also insofern - wie Erich Weniger das ausdrückte - notwendigerweise „im Vorhof“ des voll verantwortlichen Lebens verbleibt [11].

VI.

Wenn ich bisher den Leitgedanken verfolgte, daß ein Konzept der Allgemeinbildung heute durch die Konzentration auf Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft gewonnen werden müßte, so gilt es nun, die polare Ergänzung zu diesem Gedanken zur Sprache zu bringen. So notwendig nämlich die Konzentration auf aktuelle Brennpunkte ist, so führt sie doch stets auch die Gefahr gewisser Fixierungen auf die Gegenwart, der Blickverengung, mangelnder Offenheit sich; überdies ist jene Konzentration auf Schlüsselprobleme mit Anspannungen, Belastungen, Anforderungen intellektueller, emotionaler und moralisch-politischer Art verbunden, die nicht zuletzt auch für junge Menschen zur Überforderung und zur Einschränkung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten werden können, wenn sie die Bildungsprozesse ausschließlich bestimmen würden.
Ein zeitgemäßes Allgemeinbildungskonzept muß daher Lernbereiche, Lernangebote und immer auch Lernanforderungen enthalten, die nicht nur oder nicht direkt durch ihren notwendigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit den brennenden Zeitproblemen gerechtfertigt sind, sondern Zugänge zu unterschiedlichen Möglichkeiten menschlichen Selbst- und Weltverständnisses und zu kulturellen Aktivitäten (im weitesten Sinne dieses Wortes) öffnen - von der subjektiven Seite aus gesehen: zur Vielzahl möglicher, relativ frei wählbarer individueller Interessenschwerpunkte. Hier wird nun ein zweiter Aspekt der Bedeutungskomponente „Allgemeinbildung als vielseitige bzw. allseitige Bildung“ angesprochen. Curricula und Unterricht auf den verschiedenen Stufen des Bildungsweges können in dieser Hinsicht zwar nie vollständig sein, aber sie müssen doch ein breites Spektrum repräsentieren: Zugänge zum mathematischen Denken, zur naturwissenschaftlichen Weise der Wirklichkeitserkenntnis und zum vor- und außer-wissenschaftlichen, betrachtenden oder aktiven Umgang mit Natur, zur handwerklichen und technischen Wirklichkeitsgestaltung, zur geographischen und ethnologischen Weltkenntnis, zum historischen und sozialwissenschaftlichen Verstehen von Gesellschaft und Politik, zur muttersprachlichen und, wenigstens in den Anfängen, zur fremdsprachlichen Kommunikation, zur religiösen bzw. weltanschaulichen Lebensdeutung, zur ästhetischen Wahrnehmung und Gestaltung im sprachlich-literarischen, im musikalischen, im bildnerischen, im mimisch-darstellenden Bereich, und zwar in der Öffnung für die ganze Breite des Ästhetischen - von der Unterhaltungsliteratur bis zur Dichtung i.e.S.d.W., von der Popmusik bis zur klassischen Musik, von der Bildreklame bis zur großen Malerei, Plastik und Architektur, von der laienhaften Pantomime bis zum Drama usw. ; weiterhin Zugänge und Anregungen zu verschiedenen Weisen des Spielens, zur körperlichen Bewegung und zum Sport, schließlich zum elementar-philosophischen Nachdenken über Sinnfragen der individuellen und der gesellschaftlich-politischen Existenz des Menschen.
Auch hier kann es jeweils „nur“ um exemplarische Zugänge gehen, oder besser: Es muß Raum für gründliche exemplarische Konzentration gewonnen werden, die freilich durch orientierendes Lernen ergänzt werden muß. Aber nur, sofern auch hier genetisch-ex-emplarisch-sokratisches Lehren und Lernen im Sinne Wagenscheins [12] und anderer Autoren in den Mittelpunkt tritt, wird es möglich sein, der immer wieder gestellten Forderung gerecht zu werden, „das Lernen zu lernen“, d.h. jene Einstellungen und jene methodischen Fähigkeiten zu entwickeln, die es dem jungen und dem erwachsenen Menschen ermöglichen, in einer Welt, deren Erkenntnisbestände, Anforderungen, Chancen und Gefahren sich schnell wandeln, selbständig oder mit fremder Hilfe immer neue Lernprozesse zu vollziehen Dazu ist es vor allem notwendig,
erstens Offenheit dafür zu gewinnen, neue Erfahrungen machen zu können und machen zu wollen, das bisherige eigene Wissen, den bisherigen Erkenntnisstand, die bisherigen Deutungsmuster in Frage zu stellen;
zweitens Grundkategorien [13] zu gewinnen, in deren Spur man an neue Erfahrungen, Positionen, Entwicklungen Fragen stellen kann: Wie kommt das? Wie wird das begründet? Ist das eine Feststellung, eine Vermutung, eine Behauptung? Was für Folgen könnte das haben? In welchen Zusammenhängen steht das? In wessen Interesse liegt das? Was könnte das für mich, was für andere bedeuten?
Drittens muß man Wege und Verfahren und wiederum: die Bereitschaft erlernen, neue Informationen einzuholen und zu verarbeiten: von der Benutzung von Nachschlagewerken bis zur Bibliothekskartei, vom Lesen von Statistiken bis zur kritischen Nutzung der Zeitung, des Rundfunks, des Fernsehens, des Volkshochschulangebots, in Zukunft in zunehmendem Maße gewiß auch der elektronisch gespeicherten und abrufbaren Informationen; vom sachbezogenen Gespräch über die gezielte Befragung und Erkundung bis zur Nutzung der zahlreichen Beratungsinstitutionen, von der Berufs- über die Verbraucher- bis zur ärztlichen oder der Familien-, Partner- und Eheberatung.
Unter dieser Zielsetzung vielseitiger Bildung muß geprüft werden, wieweit es notwendig ist, um solcher gründlichen Beschäftigung mit ausgewählten Exempeln willen auch systematische, fachliche Lehrgänge zu entwickeln. - Im übrigen aber gilt auch für die uns jetzt beschäftigen den Dimension der Vielseitigkeit, daß sich der Unterricht in den Bildungsinstitutionen immer wieder zur außerschulischen Realität hin öffnen müßte, in der Form von Projekten, Erkundungen, Praxiserprobungen.

VII.

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf alle drei Dimensionen des Allgemeinbildungsproblems - Bildung für alle, Bildung im Medium des Allgemeinen, vielseitige bzw. „allseitige“ Bildung.
Die bisher entwickelten Argumentationen zur inhaltlichen Konkretisierung eines neuen Allgemeinbildungskonzepts führen auf eine wichtige lehrplantheoretische und -praktische Frage hin: Es muß geprüft werden, wie lange es unter dem Gesichtspunkt eines hinreichend breiten Angebotes notwendig ist, alle Lernenden zur Teilnahme an einem verbindlichen Unterricht zu verpflichten, um zu frühe Einseitigkeiten zu vermeiden, Einseitigkeiten, die gar nicht auf begründeten Auswahlentscheidungen beruhen, sondern darauf, daß man zu wenige unterschiedliche Möglichkeiten kennengelernt hat. Die Ausdehnung der Schulpflicht, zunächst auf 10 Jahre für alle Jugendlichen, und die Fortführung und Verbreiterung eines allgemeinbildenden Unterrichtsbereiches auch in der Sekundarstufe II aller Bildungsgänge - einschließlich der sog. berufsbildenden - ist daher m.E. unabdingbar notwendig. - Andererseits ist es aber auch notwendig, daß der Aufwachsende die Möglichkeit erhält, sich auf der Basis einer relativ breiten Grundbildung für Schwerpunktsetzungen zu entscheiden, hier seine Möglichkeiten zu erproben und sich ggf. bereits auf bestimmte spätere berufliche Tätigkeiten oder berufliche Ausbildungsgänge hin zu orientieren. Insofern ist z.B. der Grundgedanke der neugestalteten gymnasialen Oberstufe mit ihrer Betonung der Leistungsfächer und das darüber hinausgehende Kollegstufenmodell [14] m.E. nach wie vor gültig, auch wenn man gewisse Korrekturen zugunsten der Komponente gemeinsamen Unterrichts für angezeigt hält.
In den zuletzt angesprochenen Zusammenhang gehört ein weiteres, wichtiges Moment des hier vertretenen Allgemeinbildungskonzepts: Es ist historisch notwendig und möglich, auf der Sekundarstufe II, also nicht nur der gymnasialen Oberstufe, sondern einer Bildungsstufe für alle Jugendlichen vom 16. oder 17. Lebensjahr an, die Grundlagen für eine spätere berufliche Mehrfachqualifikation, mindestens eine Doppelqualifikation zu legen und damit ein höheres Maß individueller Entscheidungsfreiheit in beruflicher und zugleich außerberuflicher Hinsicht zu gewährleisten [15].

Die Basis eines solchen Konzepts müßte innerhalb der Sekundarstufe I gelegt werden, in Form einer neuen Konkretisierung der Grundidee „Polytechnischer Bildung“ bzw. der Weiterentwicklung der „Arbeitslehre“ als eines für alle Schüler verbindlichen Unterrichtsbereichs. Daß solche Zielsetzungen erreichbar sind, zeigen etwa Schulmodelle wie die an der Waldorf-Pädagogik [16] orientierte Hibernia-Schule in Wanne-Eikkel oder die Kollegstufe in Nordrhein-Westfalen. Diese Beispiele signalisieren damit drei weitere Merkmale eines neuen Allgemeinbildungskonzepts:
zum einen die Bemühung, die Spannung von übergreifend-gemeinsamen Zielen, Inhalten und Fähigkeiten einerseits und Spezialisierung und Individualisierung andererseits fruchtbar zu machen;
zum zweiten die Aufhebung der schematischen Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung - damit wird ein auf irrigen Voraussetzungen beruhendes Element der Humboldt’schen Bildungsauffassung korrigiert zugunsten einer dialektischen Interpretation des Verhältnisses von allgemeiner und beruflicher Bildung, wie sie etwa bereits bei Pestalozzi oder Goethe anklingt;
zum dritten schließlich die Überwindung der Scheidung von theoretischer Bildung und sog. praktischer Ausbildung, einer Scheidung, deren historisch-gesellschaftlichen Hintergrund letztlich die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und die damit verbundenen Unterschiede und Interessengegensätze hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage sozialer Klassen und Schichten und ihrer gesellschaftlich-politischen Einflußmöglichkeiten bildeten und z.T. immer noch bilden.

VIII.

Abschließend muß eine Implikation der vorangehenden Ausführungen ausdrücklich hervorgehoben werden: Sinnvolles und ertragreiches Lehren und Lernen im Sinne der angesprochenen Zielperspektiven einer „neuen Allgemeinbildung“ schließen immer ein erhebliches Maß sehr schlichter, sozusagen handfester Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten ein - Lesen und Schreiben, sachlich treffendes und kommunikativ verständliches Sprechen, grundlegendes Rechnen, Genauigkeit des Beobachtens, handwerklich-technische Grundfertigkeiten, Informationstechniken usw. usw., zugleich aber Tugenden wie Selbstdisziplin, Konzentrationsfähigkeit, Anstrengungsbereitschaft, Rücksichtnahme usf. Es ist aber entscheidend wichtig, den Stellenwert solcher Momente richtig zu bestimmen: Es handelt sich um instrumentelle Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und um Sekundärtugenden, die als solche nichts über ihre begründbare, verantwortbare Verwendung sagen und ebensowohl in den Dienst humaner, demokratischer, friedlicher, mitmenschlicher Ziele und Handlungszusammenhänge gestellt wie zum Konkurrenzkampf, zur Herrschaft über andere Menschen und zu ihrer Ausnutzung, zur Vermehrung von Friedlosigkeit, zur Verhinderung von Aufklärung, Mitbestimmung, Chancengleichheit usf. benutzt werden können. Daher ist es verfehlt, und es könnte verhängnisvolle Folgen haben, wenn man sie zu Voraussetzungen anspruchsvollerer Bildungsziele und -prozesse erklärt und ihnen sachliche und zeitliche Priorität zuspricht, wie das heute im Zeichen der sog. bildungspolitischen Wende - so auch in den Bonner Thesen „Mut zur Erziehung“ (1978) [17] - nicht selten geschieht, einer Wende zum Konservativismus, zur Restauration. Demgegenüber wird hier bewußt die Formulierung gewählt, daß sinnvolles und ertragreiches Lehren und Lernen, Allgemeinbildung im hier vertretenen Sinne solche Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Sekundärtugenden einschließt. Das will besagen: Sie sollten im Zusammenhang mit emanzipatorischen Zielsetzungen, Inhalten und Fähigkeiten erlernt werden, so nämlich, daß sie von den Lernenden als instrumentell notwendig eingesehen werden können, nicht aber losgelöst von begründbaren, humanen und demokratischen Prinzipien18.

meinbildungskonzepts zu stoßen (vgl. die Abschnitte IV, V, VI und VIII), die strukturell Ähnlichkeiten mit Erich Wenigers Unterscheidung dreier Schichten des Lehrplans (1. Schicht: Bild- ungsideal und existentielle Konzentration. - 2. Schicht: Die geistigen Grundrichtungen und die Kunde. - 3. Schicht: Kenntnisse und Fertigkeiten) aufweist. - Vgl. E. Weniger: Didaktik als Bildungslehre. Teil I: Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans. 9. Aufl. Weinheim 1971.


[1Vgl. dazu u.a.: W. Strzelewicz: Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein, in dem gleichnamigen Buch von W. Strzelewicz, H.-D. Raapke, W. Schulenberg, Stuttgart 1966, jetzt auch in gekürzter Taschenbuchausgabe, Stuttgart 1973, S. 1-37. - K. Vondung, Hrsg.: Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Göttingen 1976.

[2Vgl. F. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Zweiter Band. Nachdruck Berlin 1960, Schlußbetrachtung, insbes. S. 682-689.

[3H.-J. Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft (zuerst 1970). Jetzt als Bd. 2 von H.-J. Heydorn: Bildungstheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1979. - Weitere einschlägige Texte in H.-J. Heydorn: Bildungstheoretische Schriften, Bd. 3 (Ungleichheit für alle. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs.) Frankfurt/M. 1980.

[4H. Blankertz: Bildung - Bildungstheorie. In: C. Wulf: Wörterbuch der Erziehung. 6. Aufl. München 1984, S. 65-69. - Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Hannover 1969. - Bildungstheorie und Ökonomie. In: K. Rebel, Hrsg.: Texte zur Schulreform. Weinheim 1966. S. 61-85. - Die demokratische Bildungsreform und ihre bildungstheoretische Legitimation. Tonband-Begleitheft Tb/CTB 2356 des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht. Grünwald 1974, S. 11-23. - Demokratische Bildungsreform, kapitalistische Systemerhaltung, politische Erziehungswissenschaft. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 1973, S. 314-334.

[5M. Horkheimer: Begriff der Bildung. In: M. Horkheimer: Gegenwärtige Probleme der Universität. Frankfurt/M. 1953, S. 14-23.

[6Th.W. Adorno: Theorie der Halbbildung. In: M. Horkheimer/Th. W. Adorno: Soziologica II, Frankfurt/M. 1962, S. 168-192. - Ders: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M. 1970.

[7J. Habermas: Vom sozialen Wandel akademischer Bildung. In: Merkur 1963, S.413-427.

[8K.E. Nipkow: Der aufklärerische Charakter moderner Pädagogik. In: Die Deutsche Schule 1968, S. 149-162. - Bildung und Überlieferung. In ZfP 1965, S. 307-330.

[9Ich beziehe mich hier auf eine unveröffentlichte Erstfassung eines Arbeitspapiers von J. Ebert und J. Herter: Sozialdemokratische Grundwerte und Bildung. Es enthält einen Beitrag zur Fortschreibung und Neufassung der „Grundwerte-Position“ der SPD. Vgl.: Grundwerte und Grundrechte. Vorgelegt von der Grundwerte-Kommission beim SPD-Parteivorstand. Bonn 1979.

[10Vgl. auch: W. Rügemer: Neue Allgemeinbildung ohne Inhalt? und F. Baumgärtner: Grundeinsichten als Strukturprinzip der Allgemeinbildung. In: Demokratische Erziehung 1980, S. 413-419 bzw. 420-427. - H.-J. Heydorn: Demokratische Lehrinhalte. K. Faller: Verfassungsauftrag und demokratische Bildungsinhalte. G.M. Rückriem: Thesen zum Bildungsbegriff. G. Auernheimer: Zur Bedeutung der Perspektive für einen demokratischen Bildungsbegriff. Alle vier Aufsätze in: Demokratische Erziehung 1979 (Schwerpunkt-Thema: Ziele und Inhalte demokratischer Bildung und Erziehung.), S. 176-200.

[11Vgl. E. Weniger: Bildung und Persönlichkeit. In: E. Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Weinheim 1953, S. 123-140; Zitat S. 138.

[12Vgl. M. Wagenschein: Verstehen lehren. Genetisch - Sokratisch - Exemplarisch. 7. Aufl. Weinheim 1982.

[13Den Grundgedanken der „Theorie der kategorialen Bildung" halte ich nach wie vor für gültig. Vgl. W. Klafki: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. 3./4. Aufl. Weinheim 1964. - Ders.: Kategoriale Bildung. In: W. Klafki: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 10. Aufl. Weinheim 1975, S. 25-45. - Vgl. auch die 2. und 3. Studie in diesem Band.

[14Vgl. zum Grundkonzept: Kollegstufe NW. - Strukturförderung im Bildungswesen des Landes Nordrhein-Westfalen. Eine Schriftenreihe des Kultusministers. Heft 17. Ratingen, Febr. 1972.

[15Vgl. Deutscher Bildungsrat - Empfehlungen der Bildungskomission: Zur Neuordnung der Sekundarstufe II. Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen. Bonn 1974. - Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Studie über die Integrierbarkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung. (IBA) Teil I und II. München 1978 und 1979. - Heinz Dedering, Hrsg.: Lernen für die Arbeitswelt. Praxisnahe Arbeitslehre in der Sekundarstufe Il. Reinbek 1979.

[16Vgl. G. Rist, P. Schneider: Die Hibernia-Schule. Von der Lehrwerkstatt zur Gesamtschule. Eine Waldorfschule integriert berufliches und allgemeines Lernen. 2. Aufl. Reinbek 1980, bes. S. 70-279.

[17Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Forum am 9./10. 1. 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg. Stuttgart 1978. - Zur Kritik u.a.: D. Benner u. a.: Entgegnungen zum Bonner Forum „Mut zur Erziehung“. München 1978. - Tübinger Erklärung zu den Thesen des Bonner Forums „Mut zur Erziehung“. In: ZfP 1978, S. 235-240. - U. Herrmann: „Mut zur Erziehung“. Anmerkungen zu einer proklamierten Tendenzwende in der Erziehungs- und Bildungspolitik. In: ZfP 1978, S. 221-234. - W. Klafki: „Mut zur Erziehung“ - Kritik einer konservativen Erziehungskonzeption. In: BdWi (Bund demokratischer Wissenschaftler) - Forum 43/44 (Nov. 1980), S. 41-48.

http://www.fsrk.de/artikel_95.html [Stand 28. Juni 2008]