.
FSRK

Rede der FSRK zur Neu-Eröffnung der Schuldenuhr

Liebe Mitstreitende,

ich möchte Euch aufrufen, mit uns Geschichte zu machen! Wir eröffnen heute die Schulden- und Vermögensuhr wieder, die wir vor 6 Jahren hier aufgebaut haben. Wir tun dies heute im Zusammenhang einer international angelegten Kampagne, um die Politik der Austerität – hierzulande verkörpert durch die Schuldenbremse – ein für alle mal zu Fall zu bringen und damit eine neue Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung einzuleiten: eine Etappe der bewussten, planvollen, demokratischen Gestaltung global menschlicher Lebensverhältnisse!

Warum diese Kampagne und warum gerade jetzt? Ich will Euch 4 wesentliche Gründe darlegen.

Den schwerwiegendsten Grund hat Jean Ziegler bei seinem Hamburg-Besuch im Rahmen unserer G20-Protestaktivitäten benannt: ein Mensch, der heute an Hunger stirbt, wird ermordet. Eine Politik der Sozialstaatszerstörung, der Lohndrückerei, der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der Kapitalbegünstigung, wie sie von der Schuldenbremse abgesichert werden soll, tötet – tagtäglich. Ein griechischer Bürger, der infolge der Troika-Maßnahmen arbeitslos geworden ist oder nicht mehr genug verdient, um sich eine Krankenversicherung zur medikamentösen Versorgung selbst eines relativ einfachen Herzproblems leisten zu können, allzumal wenn in einer Akutsituation weder ein Krankenwagen noch eine zugängliche Notfallambulanz vorhanden sind, weil sie weggekürzt werden mussten – der wird ermordet. Das ist kein fingierter Einzelfall. Die Bevölkerungsentwicklung Griechenlands ist seit 2011 rückläufig, damit die Gewinne bei Goldman Sachs weiter sprudeln. Jeder Tag, den die Austeritätspolitik früher beendet wird, ist gleichbedeutend mit einer Vielzahl geretteter Leben, nicht nur in Griechenland.

Der zweite Grund ist der volkswirtschaftlich-logische, denn unter keinerlei ökonomischen Gesichtspunkt ist die Strangulierung öffentlicher Investitionen ein zukunftsfähiges Konzept, allzumal in einer Krisensituation, wie sie seit 2008 global besteht. Das haben selbst eingefleischte Verfechter neoliberaler Wirtschaftspolitik wie der Internationale Währungsfonds mittlerweile einsehen müssen. Um es auf eine knappe Erkenntnis zu bringen: jegliche Investition in die Förderung des Allgemeinwohls, sozialer Sicherungssysteme, öffentlicher Infrastruktur und Stärkung der Massenkaufkraft (auch die böse Umverteilung von oben nach unten) ist ein unmittelbar wirksamer Konjunkturschub. Die Schuldenbremse war nie ein am Allgemeinwohl orientiertes Programm, sondern der Versuch, die vor allem infolge der Finanzkrise 2008 massiv infragegestellte kapitalbegünstigende Politik zu verteidigen gegen den wachsenden Unmut der Mehrheit, die zunehmend erkennen konnte, das sehr wohl Geld für alles Vernünftige da ist, wenn bspw. eine Lehman Bank mit 700Mio. € mal so eben gerettet werden kann. Das lässt sich schon beim ideologischen Erfinder der Schuldenbremse, James McGill Buchanan nachlesen, der über ihren Zweck sagt, es gehe darum die Minderheit (gemeint ist die vom Aussterben bedrohte Gruppe von Kapitaleignern) gegenüber der Tyrannei der Mehrheit (gemeint ist die Demokratie) zu schützen.

Für noch entscheidender halte ich aber die positiven Gründe, die für die gemeinsame, engagierte sofortige Überwindung der Austeritätspolitik sprechen. Denn es geht in dieser zivilisatorischen Entscheidungssituation, in der wir uns weltweit befinden und die in den konzeptionellen Polen zwischen Trump auf der einen und Bernie Sanders auf der anderen Seite personell figuriert sein mag, um nichts weniger als darum, dass wir uns unsere Geschichtsmächtigkeit, die praktische Relevanz humanistischer Ambitionen im gesellschaftlichen Maßstab und damit die Würde und den Sinn des Menschseins kollektiv zurückerobern. Denn der Reichtum ist groß genug, um die Welt zweieinhalbfach ernähren zu können, ist groß genug, dass niemand ohne Dach über dem Kopf leben oder an heilbaren Krankheiten sterben muss, ist groß genug, dass alle sozial gesichert, klug und menschenfreundlich gebildet, geschichtsbewusst kulturell angeregt und solidarisch die Entfaltung einer aufgeklärten und friedlichen Menschheit bewusst realisieren können, die auch ein produktives Verhältnis zu den natürlichen Lebensgrundlagen verwirklicht. Die Schöpfer dieses Reichtums sind wir, die 99% – nicht die 45 Menschen, die laut jüngster Studie des DIW (deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) über ebensoviel Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung (es sind dies allein 214 Mrd.€). Die Beendigung der Verstümmelung des Grundgesetzes durch den Paragraphen zur Schuldenbremse hat also direkt materielle, kulturell-mentale und politische Bedeutung für das Erstreiten von allem, was gut, vernünftig und für eine gedeihliche Entwicklung aller unabkömmlich ist – von inklusiven, allen zugänglichen und auf die Entfaltung der Persönlichkeit orientierten Bildungseinrichtungen über ein menschenwürdiges Gesundheitswesen, das Krankheiten ursächlich und schon vor ihrer Entstehung zu besiegen weiß bis hin zu nachhaltiger, integrativer sozialer Infrastruktur – Mobilität in Stadt und Land, Wohnen, Grundversorgungsprogrammen, Alterssicherung und aufgeklärter Kultur – womit auch allen Konkurrenz- und Ungleichheitsdemagogen der materielle Nährboden entzogen werden kann. Nicht zuletzt geht es mit der Abschaffung der Schuldenbremse auch um die Repolitisierung des Politischen gerade durch alle, die eine menschenfreundliche Konzeption für die Gesellschaftsentwicklung verfolgen - denn im offenen demokratischen Meinungsstreit kann eine menschenwidrige Politik niemals dominieren.

Für den wesentlichen Beweggrund, diese Kampagne zu einem Erfolg zu bringen, sehe ich aber den folgenden an: es ist die großartige Gelegenheit, nach ziemlich langer Zeit gegenüber der Welt einen Beleg liefern zu können, dass auch aus diesem vermaledeiten Deutschland durchaus etwas Positives für die Welt hervorgebracht werden kann. Die bundesdeutsche austeritätspolitische Dogmatik ist der wesentliche Grund, warum es in anderen europäischen Ländern (noch) nicht für einen progressiven Durchbruch hat reichen können (bsp. Griechenland), warum sich fortschrittliche Bewegungen in Ablenkungsgefechten verzetteln (bsp. Katalonien) oder rechte Hetzer noch viel zu sehr verfangen können (bsp. Frankreich). In Lateinamerika, namentlich Brasilien und Argentinien, ist sie Stichwortgeber für ein brutales und anachronistisches Rollback in neoliberale Zerstörung. Der Bruch mit dieser Dogmatik in dem Land, von dem sie maßgeblich ausgeübt wird, bedeutet einen unaufhaltsamen Befreiungs-Tsunami für fortschrittliche Kämpfe in aller Welt! Unsere Freunde in Lissabon und Kapstadt, in Belo Horizonte und Athen, in Paris, Tokio, San Francisco, Istanbul, Belgrad, Tunis oder Warschau warten genau darauf. Sie wissen, dass wir diese Bedeutung im Zentrum des Bösen haben. Wir können, mit der versammelten Hoffnung der halben Welt im Rücken, der Notwendigkeit auf unserer Seite, und der Kraft unserer Überzeugung im Sinn diese Befreiung von historischer Dimension ins Werk setzen. Lasst sie uns heute beginnen.

http://www.fsrk.de/artikel_390.html [Stand 26. Januar 2018]