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dokumentiert

Walter Jens Dankrede aus Anlaß der Verleihung der Bruno-Snell-Plakette im Hamburger Rathaus am 12.12.1997

Das ist ein bewegender Augenblick für mich: Der Blick gleitet zurück; Gegenwart und Vergangenheit berühren einander; im Rathaus meiner Vaterstadt erinnere ich mich an eine Zeit, die, als Im-Perfekt: nicht abgeschlossen also, sondern übergehend ins Präsens des Hier und Jetzt, plötzlich lebendig wird.

Ich gehe wieder in die Volksschule Breitenfelder Straße; die Hälfte meiner Mitschüler sind Juden und kommen (aus der Kinderperspektive angeschaut) von weither: aus den Gegenden an der Alster, weil das gebildete jüdische Bürgertum Wert darauf legte, daß ihre Kinder Hamburgs fortschrittlichste Schule besuchten – die einzige Anstalt; in der, anno 1929, Jungen und Mädchen gemeinsam unterwiesen wurden. ‚Versuchsschule‘ hieß das Institut, eine republikanische Gründung, für die das Wort Koedukation auf Offenheit, Modernität und Vorwegnahme künftiger Geselligkeitsformen verwies: Walter Jens Seit an Seit mit Lotte Teitelbaum, Ernst-Robert Abraham und Ruth Levi. – Wer von ihnen hat überlebt? Mit wem ließe sich heute ein Dialog führen, der unter Devise des „Weißt du noch?“ steht?

Ermordet in Birkenau, in Armut verhungert, gerettet in Haifa oder New York: Schicksale im nächsten Umkreis eines Jungen, dessen Gefährten später aus
der vermeintlich sicheren Welt der Breitenfelder Straße in die Fremde verjagt worden sind. – Unter solchen Aspekten ist der heutige Tag für mich zugleich ein Tag der Dankbarkeit und der Wehmut: „Damit einem der Ruhm Vergnügen macht“, heißt es in Cesare Paveses Tagebuch ›Handwerk des Lebens‹, „müssen Tote auferstehen, Alte wieder jung werden, Menschen, die fern sind, zurückkehren. Wir haben von Ruhm geträumt in einer kleinen Umwelt, zwischen Familien-Gesichtern, die für uns die Welt waren, und möchten, nun wir erwachsen sind, den Widerschein unserer Unternehmungen und Worte in jener Umwelt sehen, auf jenen Gesichtern. Sie sind entschwunden, sind verstreut, sind tot. Sie werden nie mehr zurückkehren.“ Nie – füge ich hinzu – in jenes Deutschland, das es nach der Vertreibung all derer, die für die Kultur unseres Landes standen, für Humanität und Toleranz, nicht mehr gibt.

„Kauft nicht beim Juden“: Sah ich die Schilder, 1933, als ich durch die Eppendorfer Landstraße und Schröders Park in meine zweite Bildungsstätte ging, die Gelehrtenschule des Johanneums? Ein Photo zeigt Lehrer mit Parteiabzeichen, doch jemand fehlt: der Eine, dem es gelang, jedenfalls den Schülern Tügel, Giordano, Jens und ihren Freunden die Augen zu öffnen – und zwar mit Hilfe der Grammatik. „Jungs“, hatte Ernst Fritz gesagt, den man denunzierte – nicht lange darauf kam er ins Gefängnis – „Jungs, versuchen wir einmal, das Horst-Wessel-Lied ins Lateinische zu übertragen – keine leichte Aufgabe. Also, seid auf der Hut. ‚Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen‘: wo steckt hier das Subjekt und wo das Objekt? Was ist Nominativ, was Akkusativ? Erschießen die Kameraden die Rotfront oder werden sie erschossen? Necabant oder necabantur? – Wie immer ... dies Lied ist mißlungen. Denkt daran, Jungs.“

Ich erinnere mich heute abend – der Anlaß legt den Rückblick nah – noch einmal der Wegmarken, die mein Leben bestimmten: Versuchs-Schule, Gelehrtenschule, schließlich die Universität, ‚hansische‘ hieß sie damals, die alma mater, auf die, da sie die Juden und bekennende Linken ausgeschlossen hatte, weder das Adjektiv noch das Substantiv zutraf.

In der Erinnerung sehe ich einen Studenten vor mir, den der Ordinarius für Literaturwissenschaft mit „junger Kamerad“ anredete – einen Achtzehnjährigen, der über Griese, Blunck und Kolbenheger belehrt wurde, von Thomas Mann nichts wissen durfte und gut daran tat, im Deutschen Seminar nicht zu fragen, warum anno 33, dank eines ministeriellen Erlasses, im gesamten Reichsgebiet Lessings ›Nathan der Weise‹ verboten und durch den ›Kaufmann von Venedig‹ ersetzt worden war: Shylock – eine ›Stürmer‹-Figur und kein gedemütigter Mann, der, so wie Heinrich Heine es beschrieben hat, um die Tochter weint: „Jessica, mein Kind.“

Gottlob, daß ich – nicht leichten Herzens übrigens: ich liebte vor allen anderen Hölderlin und Fontane – Germanistik abwählen konnte: Deutsch als drittes Fach ... das mochte hingehen. Und als erstes? Gräzistik, wie sie ein Mann lehrte, in den vierziger Jahren, der sich, elegant gekleidet, ein wenig salopp und von faszinierender Urbanität, in jeder Weise als Gegenfigur zu den Deutschtümlern ausnahm: Bruno Snell, mit Fliege und lustigem Hut – dem Habit nach eher in Oxford als in Hammerbrook zuhause, ein Liebhaber der Künste („Kennen Sie Anita Ree? Nein? Das sollten Sie aber“) und ein Zivilisations-Literat, der im sogenannten ‚Dritten Reich‘ eine persona ingratissima war. (Bat ihn jemand um eine Empfehlung, pflegte er zu antworten: „Wenn ich Sie lobe, brauchen Sie sich gar nicht erst zu bewerben“). – Ja, so war er, mein Lehrer, der mit seinen Freunden in aller Welt, den Emigranten voran, wie eh und je korrespondierte und für unser Institut – über die Schweiz – die neuesten, soeben in Großbritannien edierten Bände mit den Oxyrhynchos-Papieren besorgte.

Muß ich, expressis verbis, betonen, wie ich diesen Mann bewunderte, mit seiner Gelehrsamkeit, der Zivilcourage und, nicht zuletzt, der Zuwendung, die ihn seinen Studenten – so Grillprazer über Goethe – „halb wie ein König und halb wie ein Vater“ erscheinen ließ? Mir jedenfalls stand er zur Seite – und hat damit mein Leben bestimmt –, als ich schon nach wenigen Wochen, das Studium der humaniora, kaum begonnen, wieder aufgeben wollte – kläglich gescheitert im Proseminar: genauer, den Stilübungen, in denen ich ein aischyleisches Chorlied in lateinische Prosa zu übertragen hatte. „Jens“, so die allein schon durch die Alliteration wahrhaft tödliche Note, „schreibt nicht nur Kirchen- sondern schon Küchenlatein.“ Gottlob, daß Bruno Snell half: „Könnte mir auch passieren. Machen Sie weiter.“

Und das tat ich dann auch, übte mich in lateinischer Rede, brachte es, vom Radebrechen über stockendes Parlieren zu unorthodoxen Formulierungen voranschreitend, immerhin zu einem „Sehen Sie, es wird ja“. – Bruno Snell jedenfalls war befriedigt, als ich, aus Freiburg zurückkehrend, vier Jahre später am Bornplatz selbst lateinische Stilübungen abhielt: Das Schlußkapitel aus Thomas Manns ›Buddenbrooks‹ wurde unter meiner Ägide ins Lateinische übertragen; Doktor Mantelsack erklärte den armen Hanno für ein amusisches Geschöpf: „Wenn ich mich frage, Buddenbrook, ob Sie die ganze Zeit gehustet oder erhabene Verse gesprochen haben, so neige ich eher der ersten Ansicht zu. Setzen Sie sich, Unseliger!“ (euer infelix, lübisch intoniert.) – Das Exerzitium machte Spaß, nicht anders als das lateinische Parlieren an Hand einfacher erasmischer Formeln, so daß der wissenschaftliche Hilfsarbeiter (so meine erste akademische Titulatur) auch heute noch die Ansicht vertritt, es sollte zumindest in gelehrten Schulen, englischen Bräuchen entsprechend, wieder zu Beginn der Stunden ein knappes exercitium Latinum stehen, mündlich und lustig: Carole, cur brachia sub mensa habes? (Auf hamburgisch: „Mann, Karl, nun tu doch endlich deine Arme auf’n Tisch.“) ... und was die Lektüre betrifft, so hätte auch hier der Grundsatz zu gelten: docere und delectare gehören zusammen – also fort mit Caesars ›Gallischem Krieg‹, fort mit dem Brückenbauen und nimmermüden Marschieren. Geben wir der Nation ein Beispiel, in Hamburg, und beginnen, zur Freude der Schüler und unter Zustimmung der Eltern, mit Erasmus’ ›Familiären Gesprächen‹, dem Dialog zwischen einem begriffsstutzigen geistlichen Würdenträger, zum Beispiel, und einer emanzipierten Dame.

Man sieht, ich habe im Bannkreis meines Lehrers nicht nur multum, sondern, was eigentlich unstatthaft sein sollte, auch multa erlernt: die Manier etwa, mit deren Hilfe sich wissenschaftliche Widersacher am elegantesten erledigen lassen: Unvergeßlich der Augenblick, in dem Bruno Snell Nietzsches mehr von Richard Wagner als von antiken Texten inspirierte General-Trennung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen ad absurdum führte: „Dieser schätzenswerte Philologe aus Schulpforta bedient sich hier einer Methode, die sich zumal von sogenannten freien Geistern häufig befolgt sieht: Man verschießt seine Pfeile und umgibt sie nachträglich mit Zielscheiben: ‚Schaut her, Freunde‘, heißt es dann, ‚lauter Zwölfen‘.“

Aufklärung, so Snell, gewinnt an Überzeugungskraft, wenn sie auf die richtige, also urbane, eher spielerische als tiefsinnig-gelehrte Weise zum Vortrag gelangt, in Lessings Art also, mit esprit und dry mock, attischer Charis und lateinischer Humanität.

In Lessings Art: sehr bezeichnend, daß Snell seine öffentlichen Vorlesungen und Dispute, unmittelbar nach der Wiedereröffnung der Universität, mit ›Ernst und Falk. Gespräche zweier Freimäurer‹ begann. So geistreich – wurde gezeigt – so biegsam und scheinbar leichthin lassen sich Wahrheiten auch formulieren, und so, Kommilitonen (utriusque generis) laßt uns beginnen an unserer Hochschule und die Worte des Mannes bedenken, der – leider nur für kurze Zeit – die Zierde unserer Vaterstadt war. „Der Freimäurer erwartet ruhig den Aufgang der Sonne und läßt die Lichter brennen, solange sie sollen und können. Die Lichter auslöschen und, wenn sie ausgelöscht sind, erst wahrnehmen, daß man die Stümpfe doch wieder anzünden, oder wohl andre Lichte anstecken muß: das ist des Freimäurers Sache nicht.“

Kein Zweifel, hier wurde mit Hilfe Lessings ein Urteil über Zeitläufte gefällt, in denen Dogmatiker geglaubt hatten, das Erbe der Aufklärung verratend, gleichsam von vorn beginnen zu dürfen – ein Urteil, das durch die Mahnung an die jungen Wissenschaftler ergänzt wurde, die Lichter, so lange es irgend ginge, brennen zu lassen, aber darüber niemals die Offenheit für jenes Neue zu verleugnen, das, nach gewissenhafter Prüfung in der Lage sein könne, das gesellschaftliche Humanitäts-Potential, zumal zugunsten der bisher davon Ausgeschlossenen, zu erweitern – freilich niemals mit dem Anspruch, eine absolute Lösung aller Probleme gefunden zu haben. „Wissenschaft, wenn sie behauptet, Welträtsel lösen zu können“, heißt es in einem Schlüssel-Traktat Bruno Snells, dem 1953 publizierten Essay ›Dogmatismus und Wissenschaft‹, „hebt ihre eigenen Grundlagen auf: Offenheit der Wahrheit und Freiheit der Forschung.“

Absage an Total-Lösungen also, zu gleicher Zeit aber auch das Pochen auf ein Sich-Verweigern der Wissenschaft gegenüber allen Partial-Interessen, die, von außen an die Universität herangetragen, gleichfalls das Ende freier Forschung bedeuteten: „Würdigt man die Wissenschaft herab zu technischem Handlangerdienst, der nur für ein vorgegebenes Ziel Mittel zu finden hätte, dann sinken wir hinter die Anfänge der europäischen Kultur zurück.“

Den Weltformeln einer sich selbst genügenden Theorie in gleicher Weise skeptisch gegenüberstehend wie der nicht über die Spezialisten-Genügsamkeit hinausgelangenden Beschränkung (und Beschränktheit) von Forschern, die eben deshalb nur all zu leicht Sirenenklängen verfielen, suchte Bruno Snell, skeptisch, witzig, unfeierlich (und dabei hochgelehrt), jenes dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu bedenken, das, vernünftig vorgetragen, mithelfen könne, daß die Universität, jenseits der Wolkenkuckucksheim-Träume und der Selbstaufgabe in erniedrigender: weil fremdbestimmter Praxis einen Weg findet, dessen konsequente Verfolgung zu jenem abgesicherten und wohl begründeten Entwurf für eine humane Gesellschaft führen müsse, den konventionelle Annahme des Gegebenen aus den Augen verlöre.

Bruno Snell: Das war ein Mann zwischen den Fronten – den gelehrten Puzzle-Spielern nicht anders suspekt als jenen Mystagogen, die über den Visionen die Wirklichkeit hinieden zugunsten gesellschaftlich dominierender Ideologen sich selbst überlassen. – Der Citoyen und Zivilist, ein Mann, für den der Begriff Bürger ein Ehrenwort war – so, wie einst für die alten Achtundvierziger vom Schlage der Brüder Grimm und Gervinus, Mommsen und Virchow – stand, in dieser Stellung, oft genug auf scheinbar verlorenem Posten – nicht zuletzt anno 33, da sich, im Sinne der Schrift Jacob Grimms ›Über meine Entlassung‹, „die Charaktere der Professoren zu entblättern anfingen, gleich den Bäumen des Herbstes bei einem Nachtfrost“, und der republikanische Sachwalter jener Position, die Ernst Cassirer anno 1928 in seiner aus Anlaß der Verfassungsfeier gehaltenen Rede als einzig vernünftige beschworen hatte, sich mehr und mehr vereinsamt sah.

Aber er gab niemals auf, Bruno Snell, sondern hielt, gelassen und souverän, den aus rassischen und politischen Gründen Vertriebenen die Treue: Man hat’s ihm gedankt, in späteren Jahren, und dem Rector Magnificus der Hamburgischen Universität die Ehre gezollt, die einem Gelehrten gebührte, der auch in dunklen Zeiten nie von der Kantischen Vision abwich, daß eine Hochschule, die den Namen societas litterarum verdienen will, der Gesellschaft die Fackel voraus und nicht die Schleppe hinterher zu tragen habe.

Und jetzt auf einmal sehe ich Snell leibhaftig vor mir, wie er mich in der ihm eigenen Manier anblickt, ein wenig spöttisch, aber gleichwohl liebevoll: ‚Ich fürchte, Sie werden ein wenig zu feierlich, lieber Freund; es wird Zeit, scheint mir, nach rhetorischem Reglement vom Pathos wieder zum Ethos zu kommen, vom Herzbewegenden zum Amüsanten, vom ‚hohen Stil‘ zum Legeren.‘

‚Meister, das fällt mir schwer: einst erstes Semester, heute im Rathaus geehrt; einst aufgebrochen ins Reich der Schwaben, nach Tübingen‘ (wohin man Snell übrigens niemals berief; über den dritten Platz kam er nicht hinaus, anno 47: wo der Geist weht, wird der weltgewandte homme de lettres nun einmal scheel angesehen), ‚und nun, im Alter, neu eingemeindet und, mit Thomas Mann zu sprechen, einer „biographischen Rundung meines Lebens“ gewürdigt – da kann einem schon schwindlig werden.– Immer noch zu feierlich?‘
‚Mein Gott‘, würde Snell sagen, ‚biographische Rundung: das aus Ihrem Mund? Hatten Sie denn keine Gegner im letzten halben Jahrhundert? Die Animositäten in Sachen Lessing-Professur: schon vergessen? Wie die Kerls einschlugen auf Sie – und, jawohl, auch auf mich: alles unter den Tisch gekehrt? Hören Sie, ganz so leicht sollte man es einigen Damen und Herren denn doch nicht machen. Seien Sie, zum Kuckuck, nicht gar so ironisch an diesem Abend, sondern zitieren, da wir schon mal bei Lessing sind, den Sinnspruch in Martials Manier ›Auf den Fell‹.‘
‚Wie? Jetzt und hier? Ausgerechnet diese dreisten Verse?‘ – Ob er wisse, Bruno Snell, was er von mir verlange?
‚Natürlich.‘
‚Gut, dann will ich, Ihnen zuliebe, gehorchen.‘
„Als Fell, der Geiferer, auf dumpfes Heu sich streckte,
Stach ihn ein Skorpion. Was meint ihr, daß geschah?
Fell starb am Stich? – Ei ja, doch, ja!
Der Skorpion verreckte.“ –

Pardon, das geht denn doch zu weit, das muß ich revidieren, indem ich nicht zuletzt eigener Fehler und Irrtümer auf meinem lang-langen Weg von Hamburg nach Hamburg gedenke, an dessen Ziel ich heute abend gleichsam angekommen bin – mich verneigend mit Lessing zugeschriebenen, die Verpflichtung gegenüber allen, die mich auszeichneten, umfassenden und gloria durch humilitas in angemessener Weise einschränkenden Zeilen:
„‚Gott‘, seufzte der redliche Faustin,
als ihm die Vaterstadt [ ... ] erschien,
Gott strafe mich nicht meiner Sünden.“

http://www.fsrk.de/artikel_386.html [Stand 12. Dezember 1997]