Im Jahre 1919 im unmittelbaren Kontext der Revolution und des Endes des Kaiserreiches entsteht unsere Universität. Ihre Gründer und Stifter schreiben über den Eingang des Hauptgebäudes: Der Forschung, Der Lehre, Der Bildung. Das heißt, sie sehen drei Aufgaben für die Universität, davon zwei, die sich selbst verstehen, die Forschung und die Lehre, und nicht zufällig als dritte genannt, nämlich als Klammer der Forschung und der Lehre, die Bildung.
Nicht zufällig war diese Aneinanderreihung deswegen, weil am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, 110 Jahre nach der Gründung der Mutter aller modernen Universitäten, der Berliner Universität, noch gewusst wurde, wozu eine Universität dient, nämlich der allgemeinen Menschenbildung.
Wir dürfen nicht aus dem Auge verlieren, dass es sich um die Gründung einer, wie wir heute sagen würden, Volluniversität handelte, also einer klassischen Universität mit dem ganzen Spektrum der Fächer, soweit diese nicht ingenieurwissenschaftlichen Ursprungs waren. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem Entstehen der großen Industrie, hatten sich nämlich die sogenannten praxisnahen Wissenschaften, die der Innovation, der Wirtschaft, der Technologie dienen sollten, als separate Gründungen unabhängig von den Universitäten etabliert und ihren eigenen Platz gefunden. Niemand kam auf den Gedanken, der Universität die primäre Aufgabe einer Berufsausbildung zuweisen zu wollen. In der finalen Phase der Weimarer Republik, kurz vor dem Beginn des Hitlerfaschismus, wurde dieses allerdings schon anders. Die Frankfurter Zeitung veröffentlichte seinerzeit eine Reihe von Aufsätzen, die durch einen Beitrag von Paul Tillich, dem großen sozialistischen Theologen, mit dem Gedanken eingeleitet wurde, die aus wirtschaftlichen Interessen entstehenden Forderungen an Berufsausbildung und zweckorientierte Forschung durch die Gründung von Fachhochschulen aus den Universitäten herauszuhalten. So ist es dann auch gekommen, nach dem zweiten Weltkrieg wurde diese Konstruktion beibehalten, zunächst noch unter anderen Hochschulbezeichnungen, aber immerhin: In den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik wurden die genuinen Aufgaben einer Universität, nämlich die der allgemeinen Menschenbildung, wenig in Frage gestellt, allerdings schon die andere Frage aufgeworfen, wie es denn möglich sein könnte, allgemeine Menschenbildung auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Auschwitz überhaupt an einer Universität noch zu etablieren. Die Universitätsreden von ehemaligen Rektoren und großen Köpfen der Philosophie, Theologie und Philologien sind voll von Überlegungen zu dieser Frage. Namen wie Horkheimer, Adorno, Jaspers und viele andere begegnen uns, wenn wir danach suchen.
Unter dem Eindruck der Studentenbewegung mischt sich am Ende der sechziger Jahre ein neues Motiv in die Auseinandersetzung über die Aufgabe der Universität, nämlich die Frage nach ihrer Aufgabe im Hinblick auf die Vermeidung dessen, was mit Auschwitz nur metaphorisch angesprochen werden kann, aber eine darüberhinausgehende Fragestellung enthält: Wie kann die nachwachsende Generation in der Universität so gebildet werden, dass sie in die Lage versetzt wird, Entwicklungen wie die gerade zurückliegende des Faschismus rechtzeitig zu erkennen, zu verhindern, sich zu den Alternativen zu bekennen und gegebenenfalls Widerstand zu leisten. Hier liegen die Geburtsjahre der Idee einer emanzipatorischen kritischen Wissenschaft, die sich, sehr vereinfacht gesprochen, darin verstand, die wissenschaftliche Ausbildung der nachwachsenden Generation nicht nur um ein hübsches „Studium Generale“ zu ergänzen, sondern die Fachstudien mit dem Gedanken an ihre Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, die sie möglich macht, zu durchwirken.
Es ist heute nicht die Stunde zu prüfen und zu analysieren, inwieweit dieses Konzept gelang, oder unter verschiedensten Einflüssen in sich zusammen sank, insbesondere natürlich unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten in Osteuropa. Unter diesem Einfluss, aber auch durch den inzwischen fast abgeschlossenen demographisch bedingten Austausch von großen Teilen des wissenschaftlichen Personals, in der ehemaligen DDR auch aus nicht demographischen Gründen, war in den neunziger Jahren, auch unter dem Eindruck einer teilweisen irrationalen Europa-Euphorie, ein idealer Boden dafür gegeben, das Universitätsverständnis der zurückliegenden Jahrzehnte in Frage zu stellen. Es wurde überwuchert durch ein atlantisches, d. h. pragmatistisches Verständnis der Aufgabe von Universität, die in Ländern wie den Niederlanden, Großbritannien natürlich, aber auch Skandinavien eher gekennzeichnet war durch die Aufgabe, im sogenannten tertiären Bereich die größten Teile der Berufsausbildung vorzunehmen, also auch solcher Teile, die in Deutschland dem dualen System überlassen sind, d. h. dem System von Teilzeit- und Vollzeitberufsschulen, in denen junge Menschen ausgebildet werden, die entweder praktischen Berufen folgen wollen oder sogenannten Assistentenberufen, bspw. als medizinisch-technische Assistenten, als Physiotherapeuten oder ähnlichem. Deutschland hat in der Adaptation der Papiere des Bologna-Prozesses noch eines draufgesetzt: der ursprüngliche Begriff der „Employability“, der der Beschäftigungsfähigkeit der Absolventen, die schließlich auch Brötchen kaufen und essen können sollen, wurde eigenartigerweise mit „Berufsfähigkeit“ übersetzt, was etwas ganz anderes ist. So schwingt bei der Berufsfähigkeit mit, dass die Universität ihre Curricula an den erwarteten Berufskompetenzen der späteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausrichten soll, also z.B. Buchhaltung bei Apothekern oder das Verkaufsgespräch bei Betriebswirten oder ein Fernsehinterview bei Publizisten als Berufskompetenz, während Employability durchaus die Fähigkeit umschließt, weit über Fertigkeiten hinausgehend, eine Rolle in der Gesellschaft in Richtung sowohl der individuellen als auch der sozialen Ansprüche auszufüllen, als Banker gleichermaßen wie als Erzieherin. Die politischen Verantwortlichen in der Bundesrepublik haben das mit dem Bologna-Prozess verbundene Verständnis der Universität atlantischer Prägung ungeprüft, wahrscheinlich sogar unbemerkt, übernommen und damit, zum Entsetzen der meisten osteuropäischen Länder, die kontinentale Konzeption der Universität als Stätte allgemeiner Menschenbildung zur Disposition gestellt.
Inzwischen sind wir deswegen so weit, dass an den Universitäten durchaus nennenswerte Teile des Personals die kontinentale Aufgabe der Universität gar nicht mehr kennengelernt haben und insofern auch nicht mehr vermitteln können. Wenn wir deshalb der Auffassung sind, dass Universität mehr ist als Stätte der Berufsausbildung und der Hervorbringung von innovationsfähigen Erkenntnissen für Produktionsprozesse, dann müssen wir uns erinnern und gleichzeitig darüber nachdenken, wie wir das einstmals gemeinte unter den Bedingungen eines vermutlich nicht reversiblen Bologna-Prozesses wieder zur Geltung bringen können. Um es in den Worten unserer Universitätsgründer zu sagen: Wir müssen uns mit der Klammer beschäftigen, die Forschung und Lehre im Dienste der Gesellschaft zusammenhalten soll, mit Bildung.
Ich möchte das heute in drei Schritten tun:
Fangen wir an mit den drei Komponenten, die Bildung ausmachen.
Zur Darlegung dessen kündige ich an, dass ich heftig plagiieren werde, denn alles Erforderliche dazu ist über zweihundert Jahre geschrieben und kann heute nicht zitiert werden. Auch erhebliche Mengen von sogenannten Selbstplagiaten befinden sich darunter, die originellste Form strafbarer Handlungen, wie wir seit kurzem wissen.
Ich schlage vor, drei Komponenten von Bildung auch innerhalb der Universität (aber eben auch darüber hinaus) zu unterscheiden, die sich in die Geschichte des Bildungsdenkens in Europa eingegraben haben:
1.1. Bildsamkeit
Richtig, diese Begriffe klingen atavistisch und müssen erklärt werden, gleichwohl sind sie hochaktuell. Die klassische Bildungstheorie, um mit der Bildsamkeit zu beginnen, ging davon aus, dass jeder Mensch bildungsfähig ist, und zwar in dem Sinne, dass er ein humanes Wesen werden kann, human also im emphatischen Sinne der Selbstverpflichtung zu humanistischen Grundwerten, wie sie beispielsweise in den Menschenrechten formuliert sind. Die Idee der Bildsamkeit war theologischen Ursprungs. Es wurde davon ausgegangen, dass es für die Menschwerdung des Menschen ein Vorbild, nämlich Gott gebe, dass der Weg dorthin, nämlich diesem Vorbild zu folgen, ein Leidensweg ist, wie Christus ihn ging, ein harter, steiniger Weg, wie er von den Dichtern des Hochmittelalters bezeichnet wurde. Jeder Mensch kann also menschlich werden, und es ist die Aufgabe der Universität dafür zu sorgen, dass ihre Absolventen sich einer solchen Humanität nicht nur verpflichtet fühlen, sondern auch entsprechend agieren.
Für die Universitätslehrer und -lehrerinnen bedeutet dieses, dass sie anerkennen und wertschätzen, dass ihre Studierenden humane Wesen sind und keine Trivialmaschinen. Das bedeutet, dass die unterrichtliche Aufgabe den Studierenden gegenüber sich nicht beschränken kann auf die Vermittlung von Kompetenzen und Wissen, das ist eine selbstverständliche Vorrausetzung für alles weitere, sondern dass diese Vermittlung nicht unter Absehung der menschlichen Aufgabe stattfinden darf. Wir könnten es uns, wenn wir wollen, unter anderem heute zur Aufgabe machen, herauszufinden, was das eigentlich in einer einzelnen Unterrichts- oder Vorlesungsstunde bedeuten könnte.
1.2. Selbstbildung
Auch die zweite Komponente des Verständnisses allgemeiner Menschenbildung – Bildung als Selbstbildung – klingt zunächst befremdlich. Man könnte sie zugespitzt so formulieren: Man kann niemanden bilden (übrigens auch nicht belehren, wie mancher pädagogisch Tätige immer noch glaubt). Also: Bildung ist ein Prozess der Selbstbildung. Der Mensch bildet sich selbst. Goethe hat das in dem Satz: „Werde, der du bist“ zusammengefasst. Kürzer und prägnanter kann man das nicht machen. Das Handicap besteht darin, dass der Mensch nicht von sich aus daran interessiert ist, sich human zu bilden. Er muss dazu aufgefordert werden. Für die Universität bedeutet dieses, dass akademischer Unterricht nur dann akademisch ist, wenn er die nachwachsende Generation veranlasst, sich auch tatsächlich selbst zu bilden, das heißt eine Identität zu entwickeln, eine Unverwechselbarkeit. Das bedeutet, dass der Lernende dazu gebracht werden muss, sich dafür zu interessieren, eine Persönlichkeit zu werden. Er muss es lernen, eine souveräne Persönlichkeit zu werden, Verhaltenssicherheit zu entwickeln, Urteilssicherheit. Das ist nicht einfach, souverän zu sein. Was bedeutet es nämlich? Um eine, wie ich finde immer noch gelungene Definition von Souveränität aus der Staatslehre zu übernehmen: Souveränität heißt, den Ausnahmezustand selbst zu bestimmen. Eine souveräne, mit sich identische Persönlichkeit lässt sich deswegen nicht in Ausnahmezustände zwingen, sie lässt sich nicht zu Aufgaben zwingen, die sie nicht durchführen will, zu Meinungsäußerungen, die nicht die ihren sind, nicht zur angepasstem Verhalten um eines kleines Vorteils willen, nicht zu Denunziation, nicht zum Absehen von den anderen. Und sie ist ohne Furcht. Die souveräne Persönlichkeit ist, so gesehen, ganz „bei sich“. Wir müssen uns deshalb als nächstes fragen: Wie muss akademischer Unterricht sein, dass dieses Ziel erreicht wird?
1.3. Höherbildung der Menschheit
Damit ist auch schon der Weg zur dritten Komponente offen. Diese Komponente heißt „Höherbildung der Menschheit“. Sie beantwortet nämlich die Frage, wozu das eigentlich gut ist. Wozu soll der Mensch sich selbst bilden, warum müssen wir auf seine Bildsamkeit eingehen? – Dieses Ziel erfüllt sich nicht darin, dass der Einzelne nur um seiner selbst willen ein „super“souveränes Leben führt, sondern seine Souveränität dient dazu, die Menschheit als Ganze, wie es im neunzehnten Jahrhundert formuliert worden ist, „höher zu bilden“, das heißt, die Menschheit als Ganze humaner werden zu lassen, das heißt, eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der nicht Angst und Übervorteilung herrschen, sondern eben Sicherheit und Rücksicht. Man kann das auch ironisch formulieren: Es geht nicht darum, einer Idee des Bildungsbürgertums zu folgen und sicherzustellen, dass man als alerter Unternehmensberater in der Lage ist, bei allfälligen Partys Sätze der Art zu produzieren: „Ich habe gestern die Netrebko gehört. Sie war wieder großartig. Dabei hat sie doch noch so ein kleines Kind.“ – Frage: „Was haben Sie denn von ihr gehört?“ - Antwort: „Das weiß ich nicht, aber es war wunderbar.“
Meine Damen und Herren, liebe Mitglieder der Universität, das eigentlich Herausfordernde an meinem Beruf besteht darin, mir täglich in unterschiedlichen Konstellationen solche Sätze anhören zu müssen, ohne im Interesse unserer Universität sagen zu dürfen: „Sie sind wohl Abonnent, oder?“ - Mit anderen Worten: Es geht nicht um Halbbildung, sondern um eine sich höher bildende Menschheit im Sinne einer lebenswerteren Zukunft in einer besseren Sozialität als der Vorgefundenen.
Was kann die Universität dazu leisten: Sie muss neben der unbezweifelbaren Notwendigkeit der Vermittlung von Kompetenz und Wissen die Fähigkeit und Bereitschaft zu Selbstreflexion und Kritik entwickeln helfen. Dabei bezieht sich Selbstreflexion auf das Individuum. Wer bin ich? Was will ich von mir und den anderen? Was will ich vom Leben? Was sind meine Pflichten? Wann darf ich am Ende des molekularen Zufalls, der ich bin, sagen, es war gut, dass dieser Zufall stattgefunden hat?
Die berühmte Kabarettistin Lore Lorentz hat am Ende der sechziger Jahre einmal in hinreißender Weise deutlich gemacht, dass es dabei nicht um Gleichmacherei, sondern um Ausgleich geht, wenn sie, so erinnere ich mich, etwa sagte: „Natürlich muss es möglich sein, dass ich mir einen teuren Fummel von Cerutti kaufe. Wenn dieses aber auf Kosten derjenigen geschieht, die gar nicht wissen, was das ist, dann wäre es besser, wenn ich mich in Sackleinen hüllen würde.“
Reden wir darüber mit unseren Studierenden? Das ist jetzt aber unsere Aufgabe geworden, nachdem das Gymnasium sie nicht mehr wahrnehmen kann und seine Lehrer aus Angst vor Verfehlung dieses nicht mehr tun, oder aus Gleichgültigkeit. Wir sind unversehens auch zu einer Erziehungseinrichtung geworden, einer Bildungseinrichtung, natürlich.
Ich komme zu meinem zweiten Schritt, nicht der Beantwortung, aber der Berührung der Frage, was es eigentlich methodisch für unsern Unterricht bedeuten würde, wenn wir in diesem Sinne allgemeine Menschenbildung möglich machen wollen. Ich möchte diesen zweiten Schritt nur als einen sehr kurzen Schritt beschreiben, weil ich finde, dass die Antworten auf diese methodische Frage von Lehrenden und Lernenden selbst gegeben werden müssen und nicht von einem Präsidenten. Ein paar Andeutungen müssen deswegen genügen:
2.1. Bildende Begegnung
Den Menschen als bildsames Wesen zu betrachten, muss ja wohl bedeuten, dass ich als Lehrender mehr tue, als mich nur um seinen Lernerfolg zu bemühen, sondern dass ich ihn oder sie als ganze Person ins Auge fasse. Wie schaffen wir es, darüber müssen wir nachdenken, dass folgender Satz sagbar ist: An unserer Universität gibt es für jeden und jede Studierende eine Lehrperson, die mehr über ihn oder sie weiß und sich mehr um ihn oder sie kümmert, als dieses in einer Massenveranstaltung möglich ist. Das macht Arbeit und kostet Arbeitszeit, aber ich denke, sie ist besser angelegt als bei der Konstruktion von Modulhandbüchern. Übrigens, noch im zwanzigsten Jahrhundert, vor dem Faschismus, hat man so etwas als „bildende Begegnung“ bezeichnet. Also noch einmal die Frage: Mit welcher Methode sichern wir es, dass jeder Absolvent jede Absolventin unserer Universität am Ende sagen kann auf die Frage: „Hatten Sie bildende Begegnungen mit Lehrenden?“ „Jawohl mit … „ - und dann muss der Name einer oder mehrerer Personen kommen, mit denen es zu einer humanen Auseinandersetzung kam.
2.2. Selbstorganisiertes Lernen
Und dann – Selbstbildung. Wie schaffen wir es, dass Studierende sich veranlasst fühlen, den Prozess der Selbstbildung zu veranlassen? Was kann heute „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ heißen? Selbsttätigkeit, das ist sicher, wird nicht dadurch gefördert, dass man Vorlesungen hält, Skripte druckt, Internet-Materialien in Massen zur Verfügung stellt (MOOCs), denn eines wissen wir von erfolgreichem Unterricht sehr genau: Unterricht, der keine ernsthafte Komponente der Problemlösung enthält, also die Lösung von wirklich existierenden Problemen und nicht von simulierten zum Zwecke des Unterrichts, ist gar kein Unterricht. Das bedeutet: Problembasierung, Projektunterricht, Ausschwärmen aus der Universität an die Plätze, wo das vorkommt, was auf eine Lösung wartet, was auf die nachwachsende Generation wartet. Das ist zugegebenermaßen in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern leichter als in der theoretischen Physik. Aber auch dort ist die Frage nicht verboten, und die Antwort schon gar nicht, die sich manchem stellt, wenn er die Fahndung nach Higgs-Teilchen beobachtet: Was wird für uns anders sein, wenn wir es wissen? Ich habe unlängst einen Physiker (natürlich nicht aus Hamburg) danach gefragt, der nicht repräsentativ sein mag. Seine Antwort fand ich, vorsichtig formuliert, nicht vollständig: „ Ich weiß nicht, wofür es gut ist. Materie interessiert mich eben. Ich interessiere mich nicht für Menschen.“ Bei der Beantwortung der Frage nach der Selbsttätigkeit geht es also um Formate von Unterricht.
2.3. Selbstreflexion und Kritik
Und dann kommt das heikelste Kapitel, die Frage: wie vermitteln wir Selbstreflexion und Kritik? Die Antwort ist sehr einfach: Wir vermitteln sie nicht. Das geht nämlich nicht. Sondern die Lust auf Selbstreflexion und Kritik entsteht erst dann, wenn die Lernenden bei ihren Lehrern und Lehrerinnen erfahren, dass diese sich selbst in Frage stellen, dass sie selber Selbstreflexion betreiben, dass für sie nicht alles selbst-verständlich ist und dass sie vieles nicht wissen und dieses auch zugeben können. Niemand verliert seine Professur, weil er den Studierenden auf eine komplexe Frage gesagt hat: „Das weiß ich nicht.“ - In dem hinreißenden Film „Yentl“ mit Barbara Streisand lässt der Autor Yentl und einen Talmud-Schüler in einen Dialog treten, der ungefähr so aussieht: Talmud-Schüler und Sohn eines Rabbi: „Mein Vater war ein großer Gelehrter, er wusste tausend Antworten auf eine Frage.“ Yentl: „Mein Vater hatte zu einer Antwort tausend Fragen.“
Das zweite Element betrifft nicht Seminarkritik, die kann auch ganz nett sein, sondern die Kritik der Verhältnisse, die in unseren Wissenschaften beschrieben werden. Das können Optimierungsformen für Börsengewinne ebenso sein, wie die nach der Legitimität stereotaktischer Untersuchungen in der Neurochirurgie, das kann die Dechiffrierung antiker Scherben betreffen, auf denen wir etwas über den Weinkonsum von Soldaten lesen, das kann die Frage betreffen, ob die Inklusion behinderter Menschen die bessere Alternative zur Integration ist, das heißt: Wenn wir von der Gesellschaft beauftragt werden, Erkenntnisse zu gewinnen, müssen wir schon Fragen stellen, die die Gesellschaft uns vielleicht nicht stellen kann: Wird unser Leben ein besseres sein, wenn wir es wissen? Wem nützt es, wenn nicht uns? Wem schadet es, und damit meine ich nicht Labormäuse, sondern vielleicht diejenigen Menschen, deren Lebensverhältnisse besser wären, wenn nicht alles zum Gegenstand neuer Wissenschaft wird, was man zum Gegenstand machen kann. Dazu muss man lernen, Indoktrination von Wissen zu unterscheiden, Wissen von Ideologie, Ideologie vom Glauben, Glauben von Aufklärung - überhaupt Aufklärung: Das muss es wohl sein. Was sonst?
Es könnte heute Nachmittag also darüber nachgedacht werden, wie diese Elemente in den alltäglichen akademischen Unterricht wieder einfließen können.
Und dabei sind wir auch schon bei den Formaten. Die Beispiele, die ich bis hierhin gegeben habe, beziehen sich eigentlich ausnahmslos auf die Gestaltung des täglichen Unterrichts selbst. Das ist also das erste Format: Allgemeine Menschenbildung als Reflexionselement jeder Stunde, in der Unterricht stattfindet und Gelehrtes geprüft wird.
Ein weiteres Format, ich habe das schon bei der Eröffnung des Universitätskollegs gesagt, können einzelne Unterrichtseinheiten, also Seminare, Vorlesungen, Übungen und vor allen Dingen selbstorganisierte Einheiten, Bestandteil jedes Curriculums sein, jeder Studienordnung, von mir aus auch jedes Modulhandbuchs. Es wird also nicht genügen, bestimmte Lehrveranstaltungen unterschiedlicher Fächer für Hörer aller Fakultäten freizugeben, obgleich auch dieses schon löblich ist, damit der Tellerrand etwas weiter wird. Sondern wir brauchen spezifische Veranstaltungen, die sich den großen Fragen widmen. Diese müssen buchbar und umstandslos anerkennungsfähig sein.
Zum dritten kann man sich vorstellen, dass solcherart in der Tradition der Liberal Arts gefasste Veranstaltungen zu einem ganzen Fach gemacht werden. In vielen Ländern, insbesondere in der atlantischen Welt, die zu kopieren wir genötigt werden, existiert „Liberal Arts“ als Fach, das kann als eines von zwei Fächern im BA-Studium gedacht sein, aber auch im Master Studium. Man kann sich sogar vorstellen, dass eine fakultätsübergreifende Einheit gebildet wird, die für ein solches Fach verantwortlich ist. Angesichts des großen Bedarfs an Antworten an die ebenso großen Fragen unserer Zeit bin ich völlig sicher, dass ein solches Fach ein großer Erfolg würde.
Und man wird viertens noch weiter gehen können: „Liberal Arts“ als ganzer Studiengang. Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist in der atlantischen Welt aus dem schnell bemerkten Defizit an allgemeiner Menschenbildung die Konsequenz gezogen worden, sogar ganze Colleges als Liberal Arts Colleges auszuweisen. Sie gehören zu den begehrtesten Hochschulen überhaupt. In Deutschland gibt es bisher zwei Hochschulen, die so etwas machen, kleine, um einen, wie wir jetzt sagen sollen, „Unique Selling Point“ zu haben. Tatsächlich muss es uns aber um einen „Unique Education Point“ gehen. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Ich wäre bereit mich dafür einzusetzen, dass solche Angebote entstehen und auch finanziell unterlegt werden.
Lassen Sie mich hier enden und die sicher bei manchen unausgesprochenen Frage wenigstens aussprechen, die sich stellen mag: Muss denn so viel wieder verändert werden? Können wir nicht einfach alles so lassen wie es ist? Macht das nicht zu viel Arbeit? Sollten wir nicht erst einmal andere Dinge tun? – Solche Fragen habe ich im Hintergrund auch schon gehört, als es um die Erörterung des Vorschlags einer Kommission ging, Fakultätsstrukturen noch einmal zu revidieren. Und man wendet sich dann lieber gleich an den Hochschulrat, der verhindern soll, dass sich etwas ändert.
Es kann nicht die Aufgabe einer Hochschulleitung sein, diese Veränderungen, schon gar nicht an der Universität vorbei, selber zu machen, aber sie hat die Pflicht, die dazugehörigen Fragen zu stellen. Das habe ich heute versucht. Die Antworten müssen Sie geben, aber eine ist mir doch wichtig, wenigstens selbst zu geben, aus meiner tiefsten Überzeugung: Ja, wir müssen uns ständig ändern, wenn wir nicht wollen, dass unsere Universität zu einem Moorgebiet wird und wir darin zu Torfstechern und Moorsoldaten, eine Metapher, die in diesem unseren Norden des Landes, wie hoffentlich noch viele wissen, einer bitteren historischen Realität gefolgt ist.