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FSRK

Die Universität als Ort der kritischen Bildung – Ein Abgesang auf das Hohelied des Standorts

Sinah Mielich (Fachschaftsrat Erziehungswissenschaft, Uni Hamburg)

Rede zum Dies Academicus „Bologna 2.0 – Wie wollen wir in Hamburg studieren?“ an der Universität Hamburg am 17.04.2012

Einleitung

„Die Universität sind wir, hier und jetzt. Denn es gibt keine Universität ohne eine Verantwortung, hier und jetzt, in Bezug auf das, was kommt. Und wenn wir hier sind, dann weil wir uns, wie mir scheint, Sorgen darüber machen, was heute mit der Universität geschieht, um ihre Zukunft und ihre Verantwortung in Bezug auf das, was kommt.“ [1]

So hat Plinio Prado vor zwei Jahren sein Referat auf der Konferenz „Schöne neue Bildung?“ an der Fakultät EPB begonnen. Ich unterstelle uns, euch, Ihnen, dass dies auch auf uns am heutigen Tag zutrifft.

Die Universität als demokratisch verfasste Institution mit gesellschaftlicher Verantwortung und dem Anspruch, Ort der Kritik und des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft zu sein, steht aktuell vor einer Vielzahl von Schwierigkeiten.

Wenn wir uns heute mit der Frage „Wie wollen wir in Hamburg studieren?“ beschäftigen, dann tun wir das vor dem Hintergrund einer globalen Krise – einer globalen Wirtschaftskrise, aber auch einer Krise des marktfundamentalistischen Dogmas, das z.B. die Naturgegebenheit der globalisierten Standortkonkurrenz beinhaltet und die tendenzielle Unterwerfung allen Tuns unter die Anforderungen „des Marktes“.

Da die Bologna-Studienreform aber – wie ich gleich zu zeigen versuche – ein Kind dieses Dogmas ist, werde ich zunächst auf die Hintergründe dieser Studienreform eingehen, um dann konkret auf die Situation in Hamburg zu sprechen zu kommen. Im Anschluss möchte ich ausgehend vom Leitbild der Uni Hamburg ein paar Gedanken zur gesellschaftlichen Aufgabe der Universität ausführen und Bedingungen für eine richtige Studienreform ableiten.

Hintergründe der aktuellen Studienreform

Die Forderung, die Hochschulen stärker auf die Anforderungen des real existierenden Arbeitsmarkts auszurichten und ein gestuftes Studiensystem mit einem niedrigeren Abschluss für die Masse und einem weiterführenden für die Elite einzuführen, wurde nicht erst mit der Bologna-Erklärung erhoben. Bereits 1966 wurde vom Wissenschaftsrat ein Papier mit Vorschlägen vorgelegt, die darauf zielten, die Hochschulausbildung auf den Erwerb bloß technisch(-instrumentalistischer) Kompetenzen auszurichten: Es ging um eine Trennung des Studiums in einen berufsbefähigenden Studienabschluss einerseits und ein Aufbaustudium für an Forschung interessierte Studierende andererseits. Auch die strikte Begrenzung der Studienzeit war damals Gegenstand der Forderung. [2] Eine solche Hochschulreform ließ sich in den 1960er Jahren jedoch nicht so ohne weiteres durchsetzen. Es formierte sich breiter Protest, der sowohl von sozialistischen, sozialdemokratischen als auch liberalen Strömungen getragen wurde und es kam letztlich nicht zur Einführung von gestuften Studiengängen.

Erreicht wurde mit dieser Bewegung vielmehr ein tendenziell kritischer Bezug der Wissenschaften auf die (Ausbeutung-)Gesellschaft und als Teil dessen die soziale Öffnung der Studiengänge und die Demokratisierung der Hochschulen.

Seit den 90er Jahren wurden solche Bestrebungen zur verstärkten Ausrichtung von Bildung auf Verwertbarkeit und Elitebildung jedoch wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Maßgeblich daran beteiligt waren Akteure wie der European Round Table of Industrialists – die größte Lobby- Vereinigung europaweit und global agierender Konzerne auf europäischer Ebene, andere Interessensverbände der sogenannten Arbeitgeber, die Unternehmensberatung McKinsey & Company, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, das Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung (CHE). [3]

U.a. diese Akteure haben die Debatte um die Gestaltung und Ausrichtung des Bildungssystems stark geprägt und dazu beigetragen, dass als Aufgabe der Hochschulen das Ziel „beschäftigungsfähige“ Absolvent_innen als Output zu erzeugen, politisch gesetzt wurde. Andere Perspektiven für die Entwicklung der Hochschullandschaft, wie sie z.B. 1988 in der „Magna Charta der Universitäten“ formuliert wurden, waren nicht so durchsetzungsfähig.

Dort wurde bspw. die Hoffnung auf eine „vertiefte Zusammenarbeit unter den Völkern Europas“ artikuliert. Kein Wort von Wettbewerb und Konkurrenz. Weiterhin wurde dort erklärt:

„Obwohl sie [die Universitäten] den Bedürfnissen ihrer Zeit entgegenkommen, müssen sie gegenüber allen politischen, wirtschftlichen und ideologischen Mächten unabhängig sein.“
und:
„Jede Universität muß, bei aller Beachtung besonderer Umstande, ihren Studierenden die Freiheit gewähren und die Voraussetzungen schaffen, die sie zur Erreichung ihrer Bildungs- und Ausbildungsziele benötigen.“ [4]

Die Bologna-Erklärung hat bekanntermaßen eine andere Ausrichtung: Vorrang hat nicht mehr eine allgemeine wissenschaftliche Ausbildung. Dort geht es um die „arbeitsmarktbezogene Qualifizierung“ der Bürger und um die „Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems“.

Und weiter heißt es in der deutschen Übersetzung der Bologna-Erklärung:

„Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation läßt sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere Länder besitzt. Wir müssen sicherstellen, daß die europäischen Hochschulen weltweit ebenso attraktiv werden wie unsere außergewöhnlichen kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen.“ [5]

Daran lässt sich die Indienstnahme des Bildungssystems für und seine Unterordnung unter Profitzwecke ziemlich deutlich ablesen.

Umsetzung der Bologna-Studienreform in Hamburg Die Bologna-Erklärung gibt abgesehen von der eben angerissenen Grundausrichtung nur wenige konkrete Maßnahmen vor. Für wesentliche Fragen der Anpassung an das Programm waren und sind die einzelnen Unterzeichner-Staaten / und in der föderalen BRD in gewissem Maße auch die einzelnen Bundesländer zuständig.

In Hamburg fiel dieser Prozess in die Zeit der verschiedenen rechten Senate und in die Zeit in der das stadtentwicklungspolitische Leitbild „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“ ausgerufen wurde. Darin wird ein Hohelied auf den Standort angestimmt: Die Stadt soll demnach als expandierendes Unternehmen verstanden werden. Sie müsse optimale Kapitalverwertungsbedingungen für die vor Ort ansässigen Unternehmen herstellen. Dabei soll sich auf profitable Kernbereiche konzentriert werden, um Konkurrenten Marktanteile abzujagen. Dafür und um den Verwertungsprozess am Laufen zu halten, brauche es qualifiziertes, hochwertiges Humankapital, das in dieser Stadt beschafft, wiederhergestellt und veredelt werden soll.

Es braucht für dieses Programm also die Hochschulen und uns, die Lehrenden und Studierenden – verstanden in der „Form“, wie wir von den TechnokratInnen und MarktfundamentalistInnen gesehen werden, da Bildung als Kompetenzvermittlung einen zentralen Beitrag zur Produktion von Humankapital spielt.

„Die Einkommens- und Beschäftigungschancen einer Region sind in hohem Maße von der Humankapitalausstattung abhängig. Die Akkumulation von Humankapital wird zunehmend zu einem treibenden Faktor des wirtschaftlichen Wachstums.“ [6]

In dem Struktur- und Entwicklungsplan der Universität, der in der Amtszeit der reaktionären Kurzzeit-Uni-Präsidentin Auweter-Kurtz aufgestellt wurde, wurden dann auch Forschung und Studieninhalte einerseits und die Verteilung von Mitteln und Studienplätzen andererseits an den angenommenen Bedarfen der real existierenden Wirtschaft ausgerichtet.

Was die alleinige Orientierung auf profitable Verwertung für Konsequenzen hat, lässt sich exemplarisch an der derzeitigen Situation der Wirtschaftswissenschaft deutlich machen: 100 WirtschaftswissenschaftlerInnen haben im vergangenen Monat ein Memorandum für die Erneuerung der Ökonomie veröffentlicht. In diesem Memorandum wurde der Mangel „paradigmatischer Vielfalt“ moniert:

„Deutliche Zeichen für diesen akademisch unhaltbaren Zustand sind:

  • Ökonomen, die davon berichten, dass sie bedeutsame Forschungsarbeiten unterlassen, da dies «wissenschaftlich keine Rendite» einbrächte;
  • um sich greifende «akademische Prostitution» und Wissenschaftsopportunismus, weil an die Stelle der intrinsischen Orientierung an der Sache des Erkenntnisfortschritts der zu erwartende Publikationserfolg in möglichst hoch klassierten Journals tritt; und
  • Nachwuchswissenschaftler, die davor zurückschrecken, für eine von der vorherrschenden Auffassung abweichende Position öffentlich einzutreten, weil sie um ihre wissenschaftliche Karriere fürchten.“ [7]

Die eben skizzierten Zustände lassen sich sicher auch an der Uni Hamburg und auch in anderen Fachbereichen als der Wirtschaftswissenschaft feststellen.

Diese Entwicklung und die eben skizzierte Politik steht dem Leitbild der Universität Hamburg von 1998 diametral entgegen. Dort heißt es zur Aufgabe der Universität:

„Die Mitglieder der Universität wollen die universitären Aufgaben in der Verbindung von Forschung und Lehre, Bildung und Ausbildung in wissenschaftlicher Unabhängigkeit erfüllen. Sie wollen zur Entwicklung einer humanen, demokratischen und gerechten Gesellschaft beitragen und Frauen und Männern gleichen Zugang zu Bildung und Wissenschaft eröffnen.
Im Bewußtsein ihrer Verantwortung als Teil der Gesellschaft versteht sich die Universität Hamburg als Mittlerin zwischen Wissenschaft und Praxis, sie orientiert sich dabei an den Grundsätzen einer ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung.“
 [8]

Um das Leitbild der Universität und eine entsprechende Praxis gegen die politischen Zumutungen der Gegenwart – die direkte Verwertung ihres „Outputs“ in Form von Forschungsergebnissen und Absolvent_innen auf dem Markt – zu verteidigen und den Umbau der Uni zu einer Kompetenz- Vermittlungs-Agentur zu überwinden, ist (meines / unseres Erachtens) der Bezug auf einen kritischen Begriff von Bildung erforderlich.

Das bringt mich zu meinem dritten und letzten Punkt, der Frage

„Was tun? - und auf was für einer Grundlage?“

Kritische Bildung lässt sich nicht NICHT rein funktional auf die – von den dominanten Gesellschaftsgruppen postulierten – Erfordernisse des Arbeitsmarktes abstellen. Kritische Bildung erschöpft sich nicht im – individuellen – Erwerb von sogenannten Kompetenzen, sondern ist eine Kraft, die der kritischen Weltaneignung aller dient, die zur Ausbildung kritischer Handlungsfähigkeit beiträgt und dazu befähigt, die gesellschaftlichen Prozesse bewusst und aktiv mit zu gestalten. Kritische Bildung kann nur als allgemeine Bildung und nicht als Elitebildung Bestand haben.

Es geht darum, den bürgerlichen Bildungsbegriff in einer neuen Form aufzuheben. Ein solches Bildungsverständnis weist über die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wie sie sich in der standortbornierten und konkurrenzbejahenden Bologna-Erklärung manifestieren, hinaus in die Richtung einer „planetarischen Zivilgesellschaft“ [9], wie es der Schweizer Soziologe Jean Ziegler formuliert hat. Es ist die Aufgabe von Universität, zweifelndes Denken zu zünden, die Anlässe für die Initiierung dieses Denkens zu nutzen, einen pädagogischen Raum für diese Entzündungsverhältnisse zu schaffen. [10]

Eine Studienreform, die wirklich über den Status Quo hinausweist und sich nicht in weiterem Klein-Klein erschöpft, muss aus Perspektive des bestehenden Leitbildes der Uni und unter Zugrundelegung eines kritischen Bildungsbegriffs, angestoßen und realisiert werden.

Wenn es hier und heute darum gehen soll, eine Verständigung über die weitere Entwicklung der Universität – mit Fokus auf das Studiensystem – anzuregen, dann müssen wir uns als Mitglieder der Universität in der genannten Polarisierung positionieren. Das müsste dann einerseits ein bewusstes „Nicht-Mitmachen“ und „Sich-Verweigern“ beinhalten, andererseits aber auch ein mutiges „Anders-Machen“ - „Anders-Machen“ als von KMK oder Hamburger Senat vorgesehen – „Anders machen“ als Einzelne/r, als einzelnes Institut, als einzelne Fakultät oder – im besten Fall - als gesamte Universität.

Dafür ist es allerdings notwendig, dass es im Gegensatz zur Vorgeschichte des Bolognaprozesses eine öffentliche und fortdauernde Debatte um die Ausrichtung der Universität gibt, an der die Mitglieder der Uni teilnehmen können. Seit der Einführung des BA/MA-Systems gibt es von vielen Fachschaftsräten und deren Konferenz eine kontinuierliche Arbeit für eine Studienreform, die ihren Namen auch verdient. Der jeweilige Stand in den Fakultäten sollte zur Kenntnis genommen werden, um sich solidarisch aufeinander beziehen zu können. Restriktionen, die die Teilnahme an einer solchen Debatte verhindern, wie z.B. die Modulfristen, müssen abgeschafft werden. Dazu ein kleiner Tipp: der Blick in die MIN-Fakultät lohnt sich.

Im Januar gab es einen ersten Studienreformtag, von der Fachschaftsrätekonferenz und dem AstA organisiert, zur Verständigung zwischen den Fakultäten – das Ergebnispapier liegt aus. [11] Trotz dieser Erfolge ist an der Uni eine Kultur des Hinnehmens weitaus verbreiteter als die des Gestaltens.

Ich habe ihn schon öfter mal zitiert, heute scheint er mir wieder passend zu sein: Klaus Heinrich, einer der Gründungsstudenten der Freien Universität Berlin, hat in den 80er Jahren der Begriff der „Enterotisierung der Universität“ geprägt. Er beschrieb damit die Beziehungs- und Leidenschaftslosigkeit der Mitglieder der Universität. Die Uni sei nunmehr weder Liebes- noch Hassobjekt, was der Grund dafür sei, dass es keine Universitätsutopien mehr gebe. Das stimmt zum Glück nicht ganz. Dennoch stimme ich ihm zu: die Lust, sich die Universität wieder anzueignen, sie zu beleben und zu belieben, um die Debatte zu politisieren, sich der gesellschaftlichen Aufgabe von Universität bewusst zu werden und um sie zu kämpfen, muss größer werden – auch um gemeinsam ganz konkret für eine bedarfsdeckende Finanzierung einzutreten und den „Kampf um die Zukunft“ weiter zu führen.

Dass es heute zum ersten Mal seit dem Start des Bologna-Prozesses an der Uni Hamburg einen uniweiten Dies Academicus zu diesem Thema gibt, ist Ergebnis von langen Auseinandersetzungen in verschiedenen Gremien der Universität.

Wir sollten diesen Tag nutzen, um gesamtuniversitär eine Position zu der Frage zu bilden, wie Studienreform sein muss, damit die Wissenschaften sich sinnvoll und produktiv auf die Gesellschaft beziehen können.

Dafür muss auch zwischen den Fächern einiges geklärt werden, so z.B. wie die Wirtschaftswissenschaften stärker allgemeinwohlorientiert werden und wie die Psychologie den Menschen wieder sozial in den Blick nimmt.

Zugleich sollte es darum gehen, Ableitungen für notwendige konkrete Änderungen zu diskutieren (z.B. in einem ersten Schritt Masterplätze für alle zu ermöglichen, die Modulfristen uniweit abzuschaffen, etc.).

Das Ergebnispapier, das heute am Ende dieses Tages stehen soll, soll bei den Verhandlungen mit dem politischen Senat und Co als Argumentationshilfe und Leitlinie dienen.

Trotz alledem kann der heutige Dies Academicus nur ein erster Schritt für die gesamtuniversitäre Verständigung über die Ausrichtung und Gestaltung der Universität sein. Diese sollte weiter verfolgt werden, z.B. mit der Wiedereinführung eines Gremientages und einer Anschlusskonferenz. Unseren Ideen sind keine Grenzen gesetzt.

In diesem Sinne: Bildung für alle – Burnout für niemand – Bologna überwinden . . .

Auf einen produktiven Dies Academicus!


[1Plínio W. Prado Jr.: Das Prinzip Universität als unbedingtes Recht auf Kritik, online auf: http://webapp6.rrz.unihamburg.de/ba-konferenz/wp-content/uploads/2010/06/Prinzip_Universität_by_Plinio_Prado.pdf

[2Vgl. Alex Demirovic: Wissenschaft oder Dummheit - Die Zerstörung der wissenschaftlichen Rationalität durch Hochschulreform, online auf: http://www.prokla.de/Volltexte/137demirovic.rtf

[3Vgl. Ingrid Lohmann: Bildung am Ende der Moderne (E-Book), http://www.erzwiss.unihamburg.de/Personal/Lohmann/Privatisierungskritik/E-Book.pdf, S.112ff.

[10Vgl. Armin Bernhard: Biopiraterie in der Bildung, Offizin, 2010

http://www.fsrk.de/artikel_290.html [Stand 17. April 2012]


Die Universität als Ort der kritischen Bildung – Ein Abgesang auf das Hohelied des Standorts