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dokumentiert

Studentische Stellungnahme zum Studienreformbericht 2011

„Man hat eine »freie Wahl«, aber nur innerhalb so eng abgesteckter Grenzen, dass ich das Studium als ein ständiges Müssen erlebe und nicht als Können, Wollen und Entwickeln. So als müsste jemand umfassend für uns denken und planen, weil wir selbst dazu komplett unfähig sind.“

„Bachelor und Module: Ich will doch einfach nur studieren“, Protokoll einer Germanistik-Studentin im Hamburger Abendblatt vom 31.10.2011

„Die Ethik des studentischen Lebens […] Entlassen aus den engen Schranken der Jugend, der Erziehung und der Aufsicht des Elternhauses und der Schule, der mahnenden Gegenwart geliebter Menschen und ungewollt erzieherischer Einwirkung der Schulgenossen, befreit von der regelmäßig zugeteilten Arbeit, fällt dem Studenten an deutschen Hochschulen ein ungewöhnliches Maß von Freiheit zu. Freizügigkeit von Hochschule zu Hochschule, die Möglichkeit, das gewählte Fachstudium zu wechseln, weitgehende Freiheit in der Wahl der Vorlesungen und Übungen, ein Lehr- und Lernsystem, dass bis zu den Prüfungen im allgemeinen keine Überwachung des Studenten und seiner Arbeit zuläßt, das sind die Hauptzüge der deutschen akademischen Freiheit, die das studentische Leben so ungebunden macht, so losgelöst von aller bürgerlichen Enge. […]“

Walter A. Berendsohn, Hamburger Universitätszeitung, April 1919.

0. Vorbemerkung

Unter dem Motto mehr „Freiheit für unternehmerisches Handeln“ formulierte die Handelskammer 1999 ihren Anspruch an die Universität: Sie solle den in ihr organisierten Arbeitgebern brauchbares „Humankapital“ produzieren. Dafür sei eine „Reform aus einem Guß“ von Nöten. Dieses Ziel vertrat sie als Teil einer Allianz von Arbeitgeberverbänden, die sich auf europäischer Ebene auf einen Umgestaltungsplan für die „Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Hochschulraumes“ verständigten. Nicht ohne Gegendruck wurden den Unis unter Mithilfe willfähriger Regierungen daraufhin aufgenötigt:

— Studiengebühren, um das entwickelte Selbstverständnis der Universitäten als Republik mit gleichberechtigten Mitgliedern durch ein „Kunden-/Dienstleister-Verhältnis“ zu ersetzen
— Top-Down-Management statt Bottom-Up-Demokratie
— Berufsqualifizierung statt des kritischen Gesellschaftsbezugs

Dem Studium wurde dadurch sein wissenschaftlich vertiefender Charakter stark ausgetrieben. Flache Reproduktion eingepaukten Wissens trat an seine Stelle, ABK-Kurse, in denen man nach seinem Praktikum erfährt, wie man sich für einen Platz bewirbt, wurden zur Pflicht. Der Irrationalität profitorientierter Wirtschaftsweise wurde so freie Bahn bereitet.

Aktuell findet Europa- und weltweit in neuer Dimension rationale Verständigung in Kritik an der zerstörerischen Freiheit der Banken statt und sie wird selbst zum Maßstab für die allgemeinwohlorientierte Gestaltung der Gesellschaft. Universitäten bekommen dadurch weltweit ihre eigentliche Aufgabe neu vor Augen geführt: Wahrheitsfindung mit kritischem Gesellschaftsbezug für die humane Gestaltung der menschlichen Gesellschaft. Die Universität Hamburg hat dafür aus ihrer demokratischen Gründungsgeschichte in einer weltoffenen Hafenstadt -die sich wegen ihres großen Reichtums umfassende und kritische Wissenschaft allemal leisten kann- sowie der fortschrittlichen Hervorbringungen insb. durch die Kämpfe von 1968ff., ein besonderes Potential -und wir alle damit Verantwortung für dessen Verwirklichung. Die Universität hat sich als ein Ziel in ihr Leitbild geschrieben: „Internationalisierung von Bildung und Wissenschaft für eine friedliche und menschenwürdige Welt“ und kürzlich in ihrem höchsten beschlussfassenden Gremium beschlossen: „Die Universität will sich der Herausforderung stellen, Perspektiven für gestaltendes Eingreifen in gesellschaftliche Entwicklungen zu eröffnen, anstatt lediglich bestehende Gegebenheiten nachzuvollziehen.“. Davon geleitet hat die anstehende Reform der Studiengänge Sinn und Richtung.

1. Berufsqualifizierung/Schlüsselqualifizierung

Studentischerseits ist die Berufsqualifizierung als zentrales Merkmal der Bologna-Studiengänge seit Längerem stark in Kritik. So wird auch die Vorstellung kritisiert, das Studium diene vorrangig der Vermittlung von wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen „Techniken“, die einen geschmeidigeren Einstieg in den stark konkurrenzorientierten Arbeitsmarkt erleichtern würden. Dieser Orientierung wurde dennoch Vorschub geleistet, u.a. wurde mit dem ABK-Bereich ein neben den wissenschaftlichen Studien gleichrangiger Pflichtcurricularbereich installiert, der ebenjene Techniken („Kompetenzen“) unter dem Damoklesschwert des Prüfungszwanges und der damit einhergehenden kulturellen Zurichtung vermitteln soll.

Stattdessen sollte eine berufliche oder praktische Orientierung das Grunderfordernis jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit zur Basis haben: die kritische Distanz und Hinterfragung der bestehenden Verhältnisse - auch was die Arbeitswelt betrifft. Durch ABK aber wird die Prekarisierung der Beschäftigung durch unkritische Rezeption des Arbeitsmarktes (integrierte Berufsberatung), sowie durch den Zwang zu unbezahlten Praktika durch die Hochschule verdoppelt.

Zusätzliche Qualifikationen, die für wissenschaftliches Arbeiten nötig sind, können nur am Gegenstand angeeignet werden. ABK-Kurse erweisen sich dafür als überflüssig und hinderlich, mindestens der Zwang, an solcherlei Programm teilnehmen zu müssen, ist abzuschaffen. Die bestehenden Möglichkeiten zu z.B. didaktischen (ZHW), informationstechnologischen (RRZ) und fremdsprachlichen (VHS-Kooperation, Fremdsprachenzentrum) Studieneinheiten sind auszubauen und curricular anrechenbar zu machen.

2. Stofffülle

Die Frage nach der Stofffülle legt nahe, die Misere Bachelor-Master wäre ein Problem der Quantität. Darin kommt bereits das Problem zum Ausdruck, dass in dem aktuellen Studiensystem Ansprüche freudiger Erkenntnisbildung negiert werden – Lernen sei lästiges Rezipieren bestehenden Wissens und vorherrschender Deutung.

Die Ursache der Enge und Dichte im Studium liegt jedoch in eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten – für alle Universitätsmitglieder. Die Problemfaktoren heißen Kanonisierung, Modularisierung, Befristung. Die technokratische Verwaltung durch STINE verschärft dieses Problem durch Individualisierung und das Vermitteln des Anscheins vorhandener Alternativlosigkeiten bei der Studiengestaltung. Dieser verordneten Normierung steht das Erfordernis und der immer weiter verbreitete Anspruch gegenüber, sich in der Universität der Lösung gesellschaftlicher Probleme und der Bereicherung des menschlichen Lebens anzunehmen. An die Stelle der Kanonisierung soll exemplarisches Lernen treten. Dies bedarf auch erweiterter demokratischer Bestimmung von Fragestellungen und Gestaltung der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung.

3. Prüfungen

Unter dem Druck ständig zu erbringender Prüfungsleistungen soll vor allem gelernt werden vor Anforderungen zu bestehen, nach denen Dritte uns selektieren wollen (Noten/Arbeitgeber). Hastiges, uninvolviertes, bulimisches Lernen wird so allen aufgedrängt und führt – soweit dem nicht zuwidergehandelt wird - zu Unwissenschaftlichkeit und menschlicher Verheerung. Die Prüfungssituation ist allerdings auch prinzipiell eine völlig irreale, da der Mensch als gesellschaftliches Wesen jederzeit auf die Mithilfe anderer zurückgreifen kann und muß. Dementgegen wird uns im Ba/Ma-Studium verschärft die krisentreibende Ideologie der Einzelleistung eingeimpft und antrainiert.

Wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt ist ein kontroverser Wahrheitsfindungsprozess, der in Kooperation gelingt und gerichtet ist auf das Ziel einer menschenwürdigen Gesellschaft. So ist auch das „Ziel des Studiums“ im § 49 HmbHG als verantwortliche Entwicklungsaufgabe formuliert:

„(1) Durch die in dem gewählten Studiengang vermittelten fachlichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Methoden wird die Befähigung zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit und zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat erworben. Gleichzeitig bereiten sich die Studierenden durch ihr Studium auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vor.“

Prüfungen werden erst dann wirklich erforderlich, wenn sich jemand seinen Erkenntnisfortschritt für universitätsexterne Instanzen bescheinigen lassen will.

Erforderlich ist die Reduzierung der Prüfungsdichte und eine vollständige Entfristung des Studiums. Wir unterstützen daher das in Kooperation von Erziehungswissenschaft und Naturwissenschaften entwickelte Vorhaben, sämtliche Fristen (Referenzsemester, Modulfristen) aus den entsprechenden Studienordnungen zu tilgen. Prüfungen sollten nur auf Wunsch benotet werden; Die Anmeldung zu Prüfungen darf nicht automatisch erfolgen; Leistungsnachweise sollen wenn, dann die kooperative Reflektion des Veranstaltungsgegenstands betonen. So kann die wissenschaftliche Erarbeitung in einem kooperativen Lehr-Lern-Verhältnis in den Vordergrund gebracht werden.

4. Mobilität

Die Modularisierung und Einführung von ECTS-Systemen haben die studentische Mobilität, im Sinne eines selbstgewählten zeitweiligen oder längerfristigen Studienortwechsels stark eingeschränkt. Die verschiedenen Modulstrukturen, Prüfungsformen und LP-Anteile haben ein Wirrwarr entstehen lassen, daß sich systeminhärent nicht sinnvoll auflösen lässt.

Es muss neu ein den jeweiligen Erkenntnisfortschritt qualifizierendes Bescheinigungssystem entwickelt und angewandt werden. Außerdem bedarf es neuer und stärkerer hochschulübergreifender Kooperationen um die Anschlussfähigkeit zu gewährleisten. Für Studierende ist die Entfristung (s.o.) und die Verbesserung sozialer Unabhängigkeit erforderlich. Die bedarfsdeckende Ausfinanzierung Auslandsstudien unterstützender Institutionen ist anzustreben.

http://www.fsrk.de/artikel_282.html [Stand 8. November 2011]